Im Gastkommentar widmet sich die Kommunikations- und Strategieberaterin Heidi Glück der Frage, was in der Polit-Kommunikation falsch läuft.

Schriftstellerin Ingeborg Bachmanns berühmter Satz "Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar" ist in die Krise gekommen. Ist die Wahrheit zumutbar? Selbstverständlich! Sonst würde man permanent den Kopf in den Sand stecken. Und sich Ohren, Augen und Mund zuhalten wie die berühmten drei Affen. Die könnten aber leider zu Wappentieren der heutigen Zeiten werden.

Die Wahrheit ist sehr wohl zumutbar, wird den Menschen aber nicht zugemutet. Warum? Weil die Politik sich davor fürchtet, die Wahrheit auszusprechen. Weil die Wahrheit meistens unangenehm ist. Aber sie ist notwendig, gerade in Krisenzeiten. "Aussprechen, was ist", sagte schon Ferdinand Lassalle. Der Vordenker der Sozialdemokratie ist heute genauso vergessen wie seine Botschaft. Denn die Menschen wollen die Wahrheit am liebsten gar nicht hören. Das nennt sich selektive Wahrnehmung. Man sucht sich von allen angebotenen Informationen jene aus, die eigene Vorurteile und Haltungen bestätigen. Die Politik weiß das und redet den Menschen nach dem Mund. Das billige Argument dafür ist: Was ist schon Wahrheit? Es herrschen Meinungen statt Fakten. US-Präsident Donald Trump hat das "alternative Fakten" genannt, man kann es auch als Lüge bezeichnen. Diese sind besonders in den digitalen Echokammern weit verbreitet.

"Wir brauchen jemanden, der den Mut hat zu sagen: 'Leute, die Party ist vorbei.'"

Das Problem der bewussten Ignoranz eskaliert in Zeiten der Krise. Gerade jetzt, wo wir vor einem immer höheren Problemgebirge stehen und Realismus brauchen würden und einen Schulterschluss, triumphiert der Populismus. Er ist die Schutzmantel-Madonna der Realitätsverweigerer, die vor allem nach Besänftigung und Beruhigung streben. Und nach Sündenböcken. Der Populismus ist das Krebsübel der Krise. Denn er vernebelt den klaren Blick auf die Probleme. Die Politik will aber aus Angst vor schlechten Umfragen den Menschen nicht wehtun.

Klimakrise, Energiekrise, Krieg in Europa – eine Sturmflut von Problemen fordert die Politik, im Bild Kanzler Nehammer und Vize Kogler.
Foto: Reuters / Lisa Leutner

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck wurde als Lichtgestalt der unangenehmen Wahrheiten, aber auch der Offenheit und Nachdenklichkeit hochgelobt. Wir haben so einen nicht. Aber auch wir brauchen jemanden, der den Mut hat zu sagen: "Leute, die Party ist vorbei." Umweltschäden, Ressourcenvernichtung, Teuerung, Krieg vor der Haustür, Energieknappheit, Verschuldungsexzesse und vielleicht wieder ein Corona-Herbst: Da grenzt es an Betrug am Volk, wenn man sagt, es wird schon nicht so schlimm.

Großes Misstrauen

Die Menschen glauben es ohnehin nicht wirklich. Sie sind unsicher, irritiert, fühlen sich bedroht. Da kann die Politik Milliardenhilfen verteilen – es hilft ihr wenig zum Erfolg beim Wähler, bei der Wählerin, weil ihr Ansehen am Boden ist und das Misstrauen zu groß. Bessere Kommunikation wäre dringend notwendig, im Idealfall eine Prise Charisma. Dazu gutes politisches Handwerk, ehrliche Worte und ehrliche Taten. Das wäre Leadership. Auf der anderen Seite: Die Menschen sind gut im Politiker-Bashing und schlecht in Selbstkritik.

Die zumutbare Wahrheit aussprechen würde voraussetzen, dass alle politischen Akteure sich zur Ehrlichkeit bekennen. Doch das ist schlecht für das politische Geschäft. Mit bitteren Wahrheiten schaufelt man sein eigenes Grab. Als der deutsche SPD-Kanzler Gerhard Schröder die harte, aber notwendige Hartz-IV-Reform einführte, von der seine Nachfolgerin Angelika Merkel zehn Jahre gut gelebt hat, war er bei der nächsten Wahl weg. Als Wolfgang Schüssel die Pensionsreform, die unsere Pensionen auch heute noch finanzierbar macht, durchgezogen hat, verlor er das Kanzleramt. Als Neuseeland in den 80er-Jahren eine radikale, aber heilsame Staatsreform vollzog, wurde die Regierung davongejagt. Winston Churchill gewann für Großbritannien den Weltkrieg und wurde 1945 als Premierminister abgewählt. Er sagte: "Das schlagendste Argument gegen die Demokratie ist eine fünfminütige Konversation mit einem Wähler". Er darf nicht recht haben.

"Seit Jahrzehnten wählen die Österreicherinnen und Österreicher meistens eine Politik der Reformverweigerung und des schuldenfinanzierten Wohlfahrtsstaates."

In der aktuellen Sturmflut von Problemen täte ein Umdenken not. Doch Vernunft scheint am Aussterben zu sein. Alle reden vom Umweltschutz, aber das Windrad am nächsten Hügel wird verhindert. Alle reden vom Aggressor Wladimir Putin, aber die Neutralität wird nicht einmal ernsthaft diskutiert. Alle reden von Eigenverantwortung, aber die Impfquote ist eine der geringsten in Europa. Seit Jahrzehnten wählen die Österreicherinnen und Österreicher meistens eine Politik der Reformverweigerung und des schuldenfinanzierten Wohlfahrtsstaates. Mit den Fingern auf Politiker zeigen ist wohlfeil, weil es nichts kostet und weil man sich dann selbst moralisch überlegen fühlen kann. Das bringt uns aber nicht weiter. Und wir kriegen, was wir verdienen.

"Staatsgegner jeder Couleur schüren Hass und raunen von Aufständen im Herbst."

Wir sollten aufpassen, dass uns der Grundkonsens einer gemeinsamen demokratischen Gesellschaft nicht langsam verloren geht. Staatsgegner jeder Couleur schüren Hass und raunen von Aufständen im Herbst. Das ist verantwortungslos. Die Medien spielen mitunter die Rolle von Brandbeschleunigern. Das ist unseriös und gefährlich. Man muss um den Zustand der Republik besorgt sein, wenn das Commitment zu Respekt, Diskurs und Würde zerbröselt. Aber der Machterhalt hat – so scheint es – überall Priorität. Dabei bräuchte es eine Allianz aus Politikern und Politikerinnen mit Weitblick und Kompetenz, Medien mit Qualität und Verantwortung und den österreichischen Citoyen, der sich konstruktiv einmischt. Es steht viel auf dem Spiel. Mir fällt die Rockband Midnight Oil ein: "How do we sleep while our beds are burning?" (Heidi Glück, 10.9.2022)