Es gab eine Zeit, da waren Kaiserreiche, Königreiche und Fürstentümer die einzige Staatsform, unter der die Menschen lebten. Und das ist noch nicht so lange her. Bis ins späte 18. Jahrhundert waren Republiken ein Mythos der Antike, republikanische Stadtstaaten verwandelten sich meist innerhalb weniger Generationen in eine Monarchie. Selbst einige amerikanische Aufständische liebäugelten nach 1783 mit einem gekrönten Haupt, nachdem sie den englischen König aus dem Land geworfen hatten; und im postrevolutionären Frankreich überlebten die Republiken immer nur ein paar Jahre, bevor ein Monarch wieder in Paris einzog. Eine Welt ohne regierende Dynastien war bis 1918 unvorstellbar und danach noch jahrzehntelang eine ferne Vision.

70 Jahre lang wurde Elizabeth II ständig fotografiert, so etwa hier mit ihren Kindern und Premier Winston Churchill.
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Ikone im globalen Dorf

Für viele Trauernde ist seit ihrem Ableben am Donnerstag eine Welt ohne die Queen schwer vorstellbar. Zu präsent war Elizabeth II nicht nur im Leben ihrer Untertanen im Vereinigten Königreich und 14 weiteren Commonwealth-Staaten, die sie als Staatsoberhaupt anerkannt haben, sondern auch im durch Massenmedien geschaffenen globalen Dorf, in dem der Großteil der Menschheit wohnt.

Aber nun, da diese Ikone der Kontinuität und Korrektheit in die Geschichtsbücher wandert, drängt sich immer lauter die Frage auf, warum es überhaupt noch Monarchien gibt. Sie sind Relikte der Vergangenheit, die in ein modernes Staatswesen, in dem Regierende idealerweise vom Volk aufgrund von Qualifikationen und nicht Herkunft gewählt werden, so gar nicht passen. Deshalb halten sie sich in funktionierenden Demokratien von Spanien bis Japan aus der Politik möglichst heraus; wo sie dennoch mitmischen, wie etwa König Rama X. in Thailand, erweist sich das meist als toxische Mixtur.

Seit ihrer Krönung im Juni 1953 ist das Bild der Queen zu einer Ikone der Gegenwart geworden – und nährt die Mythen der heutigen britischen Gesellschaft.

Hand aufs Herz: Welcher vernünftige Staatsschöpfer würde heute an die Spitze eines Landes eine Familie setzen, die in Palästen residiert, als Haupttätigkeit rote Bänder durchschneidet und mit dem Problem zu kämpfen hat, dass die nächste Generation ihre Partnerwahl partout nicht mehr auf schnöselige Sprosse anderer Aristokratenhäuser beschränken will? Selbst wenn man die Kosten von Wahlgängen und Wahlkämpfen abzieht, die anfallen, wenn man das Staatsoberhaupt unbedingt vom Volk und nicht von einer parlamentarischen Versammlung gewählt sehen will, bleiben Monarchien ein finanzieller Luxus und widersprechen so ziemlich jedem Prinzip einer egalitären und meritokratischen Gesellschaft.

Für viele Trauernde ist seit ihrem Ableben am Donnerstag eine Welt ohne die Queen schwer vorstellbar. Zu präsent war Elizabeth II.
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Und dennoch halten gerade jene Staaten, deren Bevölkerung calvinistische Nüchternheit und sogar emotionale Kälte zugeschrieben werden, an ihren Dynastien fest: Japan, die skandinavischen Staaten Norwegen, Schweden und Dänemark, die Beneluxstaaten Belgien, die Niederlande und Luxemburg – und Großbritannien, wo bekanntlich schon Kinder die steife Oberlippe gelehrt wird. Nur Spanien fällt als katholische Monarchie mit einem eher heißblütigen Volkscharakter aus der Reihe – dort ist das Königshaus ein zeitgeschichtlicher Zufall.

Das Märchenhafte an Monarchien schafft einen emotionalen Unterbau, der Gesellschaften den Zusammenhalt erleichtert.

Ersatz für Feen und Hexen

Aber selbst Gesellschaften mit dem größten Hang zur Rationalität haben und lieben ihre Märchen – und nachdem Feen, Hexen und Geister heute nicht mehr ziehen, bilden Königshäuser den idealen Fundus für moderne Legenden. Dafür sorgen einerseits die unzähligen Klatschblätter, die jede Geste und jedes Gerücht zu einem menschlichen Drama aufbauschen. Aber dazu tragen auch die Protagonistinnen und Protagonisten selbst bei: In jeder Familie menschelt es, in reichen und von den Plagen des Alltags oft abgeschirmten Familien vielleicht noch mehr – und wenn es dank Paparazzi und sozialer Medien keine Privatsphäre mehr gibt, dann entsteht ein unendlicher Strom an menschlichen Dramen, Schurkengeschichten und Tragödien.

Nun, da diese Ikone der Kontinuität und Korrektheit in die Geschichtsbücher wandert, drängt sich immer lauter die Frage auf, warum es überhaupt noch Monarchien gibt.
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In den vergangenen 70 Jahren konnten da die Windsors beinahe den griechischen Atriden und den englischen Plantagenets das Wasser reichen. Die vier Staffeln von The Crown, verfolgt auf Netflix von mindestens 73 Millionen Zusehern, geben Zeugnis dafür ab, ebenso die unzähligen Serien und Filme über die Queen und Lady Di. Unter den anderen Monarchien ist es das kleine Monaco, das den Illustrierten den besten Stoff bietet; aber auch die eher bodenständigen Königsfamilien in Nordeuropa schaffen es regelmäßig.

Bilder, Symbole und Rituale

Das Märchenhafte an Monarchien erfüllt einen weiteren Zweck, der über die leichte Unterhaltung beim Zahnarzt und Friseur hinausgeht: Sie schaffen einen emotionalen Unterbau, der Gesellschaften den Zusammenhalt erleichtert. Nationale Identität wird durch Bilder, Symbole und Rituale entweder geschaffen oder zumindest gefestigt. Dafür braucht es Pathos und Pomp, was Monarchien mühelos liefern. So wie Nationalmannschaften und manche individuelle Athleten die Herzen der Sportbegeisterten höherschlagen lassen, tun dies für andere Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen. Republiken tun sich da schwerer – wobei sich gerade die beiden traditionsreichsten, die Vereinigten Staaten und Frankreich, mit ihrem ausgeprägten Präsidentenkult besonders bemühen. Es ist eine der großen Schwächen der Europäischen Union, dass weder deren Hauptstadt Brüssel noch die dortigen Protagonisten dieses tief sitzende Bedürfnis bedienen.

Es ist diese emotionale Qualität, die Elizabeth trotz ihrer unnahbaren Art so offensichtlich besaß, die nun von ihrem Nachfolger Charles verlangt wird.
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Monarchien dienen als Kleister gegen regionale Zentrifugalkräfte. Ohne das Königshaus wäre Belgien wohl längst zerfallen, wäre die Sezessionsbewegung in Katalonien noch stärker. Bloß im noch Vereinigten Königreich werden die Royals diese Rolle nicht spielen können. Denn wie alle ehemaligen britischen Kolonien könnten die Schotten als Teil des Commonwealth die Monarchie auch nach einer zukünftigen Unabhängigkeit behalten. In Nordirland wiederum ist die Liebe zum Königshaus auf die protestantische Bevölkerung beschränkt, die allmählich zur Minderheit wird. Aber für die englische Seele war die Queen seit 1952 und ihre Eltern in den 16 Jahren davor der Balsam, der sie viele Leiden ertragen ließ.

Pracht aus dem Mittelalter

Es ist diese emotionale Qualität, die Elizabeth trotz ihrer unnahbaren Art so offensichtlich besaß, die nun von ihrem Nachfolger Charles verlangt wird. Die große Frage wird sein, ob er am nicht immer überschießenden Charisma seiner Amtskollegen gemessen wird oder an der überlebensgroßen Persönlichkeit seiner Mutter, die im Tod noch weiter wachsen wird. Sein Dilemma ist offensichtlich: Je mehr er die kostspielige Pracht des britischen Königshauses aus Spar- und Vernunftsgründen beschränkt, desto eher zerstört er dessen Zauber. Und dann könnte tatsächlich der Tag kommen, an dem sich die Briten fragen, ob sie an der Spitze ihres hochmodernen Staates eine Institution wollen, die Regeln und Ritualen des Mittelalters folgt. (Eric Frey, 10.9.2022)