Christian Drosten empfiehlt Unternehmen, Vorbereitungen für eine Corona-Welle im Herbst zu treffen.

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Der Virologe Christian Drosten rechnet mit einer starken "Inzidenzwelle" von Corona-Infektionen "noch vor Dezember". Neue Virusvarianten sorgten immer noch für viele neue Krankheitsfälle, warnte der Direktor der Virologie an der Berliner Charité in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung". Selbst bei leichten Krankheitsverläufen werde dies wahrscheinlich zu erheblichen Arbeitsausfällen führen.

"Infizierte kommen vielleicht nicht ins Krankenhaus, aber sehr viele sind eine Woche krank. Wenn es zu viele auf einmal sind, wird es zum Problem", sagte Drosten. Deshalb müsse die Politik bessere Vorbereitungen treffen.

"Bevor so viele krank werden, dass man nichts mehr einkaufen kann, dass die Krankenhäuser nicht mehr funktionieren oder kein Polizeibeamter auf der Wache sitzt, muss man Maßnahmen ergreifen", sagte Drosten. Er forderte die Politik auf, schon jetzt auf einen Konsens hinzuarbeiten, "bei welchen Signalen man wie handeln will". Denn im "im Notfall braucht es sofortige und durchaus einschneidende Entscheidungen". Drosten erwartet unter anderem, dass das Maskentragen in Innenräumen wieder notwendig wird.

Auch der Wirtschaft riet er, sich mit Stellvertreterregelungen und Team-Bildung auf eine Krankheitswelle vorzubereiten. "Ich gehe auch davon aus, dass es durchaus auch Firmen geben wird, die mal für zwei Wochen schließen müssen."

Lauterbach glaubt nicht an Lockdowns

Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach rechnet indes lediglich mit einer "mittelschweren Welle" im Herbst. Im Interview der "Rheinischen Post" zeigte sich der SPD-Politiker zuversichtlich, dass die Regierung "auf alle Szenarien sehr gut vorbereitet" ist. Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz, das unter anderem das Tragen von FFP2-Masken "in Bussen und Bahnen, im Fernverkehr, in Kliniken und Pflegeeinrichtungen sowie den Arztpraxen" vorsieht, könne man die Welle gut im Griff behalten.

"Schließungen von Schulen oder des Gastgewerbes brauchen wir nicht mehr", sagte der Minister weiter. Auch Lockdowns seien "nicht mehr vertretbar", es sei denn es gebe wieder eine pandemische Lage. "Die Gefahr sehe ich aber nicht", sagte Lauterbach.

Ulrich Elling vom IMBA.
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Influenza könnte durchstarten

Der Genetiker Ulrich Elling hofft derweil, "dass es keinen Mutationssprung in eine andere Richtung gibt". Übernimmt keine überraschende, besonders "fitte" Sars-Cov-2-Variante, könnten die kommenden Monate weiter "ruhiger" verlaufen. Dass die nächste Welle kommt, ist für den Experten aber sicher, zudem könnte in einem Winter ohne Maßnahmen auch Influenza durchstarten.

Die Mutationsdynamik behält man in Österreich weiter im Blick. Elling betreibt am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften einen zentralen Teil des österreichischen Variantenmonitorings. Aktuell richtet sich der Fokus auf die neue Omikron-Untervariante BA.2.75. Sie hat zuletzt in Indien eine kleinere Welle verursacht und tritt auch überall in Europa auf. In Österreich liegt der BA.2.75-Anteil laut den aktuellsten Daten bei knapp einem Prozent – hat also bis auf weiteres noch keinen Einfluss auf das Infektionsgeschehen. Trotzdem könnte BA.2.75 im Lauf der Zeit auch zur vorherrschenden Variante werden.

Hierzulande erstmals in Europa nachgewiesen wurde nun auch die BJ.1-Variante – eine weitere ursprünglich in Indien aufgetauchte Sublinie von Omikron-BA.2 mit zusätzlichen 14 Mutationen im Spike-Protein.

Welle im Herbst sowieso

Neu am Schirm haben Expertinnen und Experten nun auch einen Subtyp von BA.2.75 namens BA.2.75.2. Letzterer werde nun deutlich häufiger. "Er hat eine Mutation in Position 346 des Spike-Proteins", wie auch BJ.1, sagte Elling. Diese Veränderung ist bereits länger aus anderen Varianten bekannt. Sie führt dazu, dass diese Erreger sich etwas leichter verbreiten. Da BA.2.75 in etwa so leicht übertragbar ist, wie die neuesten und fittesten BA.5-Sublinien, dürfte BA.2.75.2 noch etwas fitter sein.

Es scheine, als ob sich diese Sublinie etwas leichter dabei tut, dem Immunsystem zu entkommen. Dadurch wäre vermutlich auch die Wirkung von monoklonalen Antikörpern zum Schutz besonders vulnerabler Menschen reduziert. Allerdings seien die Geschwindigkeiten in der Zunahme der Anteile der neuen Typen "nicht dramatisch. Wenn eine Variante schon langsamer daherkommt, kann sie nach hinten hinaus auch nicht so eine große Welle fahren", meint Elling: "Eine Welle bekommen wir im Herbst aber sowieso, weil der Saisonaleffekt so groß ist."

Gefahr neuer Mutationen

Insgesamt sieht der Genetiker das Risiko auf einen Herbst, der wieder deutlich stärker durch Varianten mit schweren Krankheitsverläufen geprägt ist, als gering an. Solange sich weitere Omikron-Varianten entwickeln, sei eher damit zurechnen, dass die Gefährlichkeit keine großen Sprünge macht. Trotzdem gebe es noch genug Optionen zur "Verbesserung" von Omikron im negativen Sinn.

Die Gefahr eines deutlich veränderten "fitten" Abkömmlings drohe eher aus einer anderen Richtung: Sind etwa Personen, die keinen Immunschutz aufbauen können, über mehr als ein Jahr mit Covid-19 infiziert, kann sich der Erreger im Körper dieser Menschen stark verändern. "Dieses Virus schlägt die ganze Zeit wie ein Hase Haken, verfolgt von unserem Immunsystem", so Elling. Auf diesem Weg sei es theoretisch möglich, dass aus der schon länger abgelösten Delta-Linie heraus ein "Mutationssprung" entsteht, der der Pandemie erneut neue Dynamik einhaucht.

Influenza könnte durchrauschen

In den Covid-19-positiven Proben suchen Elling und Kollegen seit dem Sommer auch nach Influenza-Erregern. In den vergangenen Wochen finden sich immer einige Patienten, die Influenza- und SARS-CoV-2-positiv sind, noch nimmt der Anteil aber nicht deutlich zu. Dass man das jetzt schon sieht, könnte an den in den vergangenen Jahren nahezu ausgebliebenen Grippewellen liegen. Damit ging auch die Immunität vor allem bei Kindern zurück, die in Grippewellen meist eine große Rolle spielen. "Wenn wir jetzt einen Winter ohne große Maßnahmen haben sollten, wird Influenza garantiert durchrauschen", glaubt Elling. (APA, red, 10.9.2022)