In Kupjansk weht wieder die ukrainische Flagge.

Foto: APA/AFP/JUAN BARRETO

Moskau/Kiew – Angesichts des raschen Vormarschs ukrainischer Truppen im Nordosten der Ukraine gibt Russland seinen wichtigsten Stützpunkt an dieser Front auf. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Samstag den Rückzug seiner Kräfte aus der Stadt Isjum in der Region Charkiw. Auch aus Balaklija zwischen Isjum und der Regionalhauptstadt Charkiw würden russische Kräfte abgezogen, zitierte die Nachrichtenagentur Tass einen Ministeriumssprecher.

Für Russland, das die Ukraine im Februar angegriffen hatte, ist es der schwerste militärische Rückschlag, seit ukrainische Truppen im März eine Einnahme der Hauptstadt Kiew abgewehrt hatten.

Nach Bekanntgabe des Truppenrückzugs riefen die russischen Besatzer im ostukrainischen Gebiet Charkiw alle Bewohner der bisher unter ihrer Kontrolle stehenden Orte zur Flucht auf. "Ich empfehle nochmals allen Bewohnern der Region Charkiw, das Gebiet zum Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu verlassen", sagte der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, am Samstag laut der Agentur Tass. "Jetzt in seinem Haus zu bleiben, ist gefährlich."

Viele Militärexperten gehen davon aus, dass die Russen mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn angesichts des massiven ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.

Puschilin sieht "schwierige Lage"

Der Chef der prorussischen Separatisten in der selbst ernannten "Volksrepublik" Donezk, Denis Puschilin, sprach von einer "schwierigen Lage". Die Situation in der Stadt Lyman sei "ziemlich schwierig, ebenso wie in einer Reihe anderer Orte im Norden der 'Volksrepublik'", sagte Puschilin in einem auf dem Online-Dienst Telegram veröffentlichten Video.

Die Ukraine hatte bereits erklärt, sie habe große Gebiete in dieser Region zurückerobert und sei bis in die strategisch wichtige Stadt Kupjansk vorgedrungen. Über diesen Eisenbahnknotenpunkt hatte Russland seine Truppen in dieser Region mit Nachschub versorgt. Das Präsidialamt in Kiew veröffentlichte am Samstag ein Foto, das ukrainische Kräfte am Stadtrand von Isjum zeigen soll.

Selenskyj: 2.000 Quadratkilometer eingenommen

Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache, die ukrainische Armee habe im Rahmen ihrer Gegenoffensive seit Monatsbeginn vor zehn Tagen rund 2.000 Quadratkilometer in zuvor von Russland besetzten Gebieten zurückerobert. Er dankte allen Soldaten, die an Rückeroberungen im Charkiwer Gebiet im Osten der Ukraine beteiligt waren. Die russische Armee habe mit der Flucht dort eine gute Entscheidung getroffen.

Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete den Rückzug als Schritt zur Erfüllung seiner militärischen Ziele. "Um die erklärten Ziele der militärischen Spezialoperation zur Befreiung des Donbass zu erreichen, wurde entschieden, die russischen Truppen umzugruppieren, die in den Bezirken Balaklija und Isjum stationiert sind", erklärte das Ministerium laut Tass. Die betreffenden Kräfte sollten statt dessen zur Verstärkung des Militäreinsatzes in Richtung Donezk eingesetzt werden. Stadt und Region Donezk befinden sich südöstlich von Charkiw.

In Kupjansk veröffentlichte der Regionalrat am Samstag auf Facebook Fotos, die ukrainische Soldaten vor dem Rathaus zeigten. Natalia Popowa, die Beraterin des Vorsitzenden des Rates, schrieb dazu: "Kupjansk ist die Ukraine. Ehre den Streitkräften der Ukraine." Auf den Fotos halten die Soldaten die blau-gelbe Flagge der Ukraine hoch, während die russische Fahne zu ihren Füßen liegt. Kupjansk ist so bedeutsam, weil dort die Eisenbahnlinien in der Ostukraine mit der Bahnstrecke nach Russland zusammentreffen. Durch die Rückeroberung Kupjansks läuft das russische Militär Gefahr, dass Tausende seiner Soldaten an der Front eingekesselt werden.

Die Ukraine hat in den vergangenen Tagen nach eigenen Angaben ein riesiges Gebiet im Osten zurückerobert – in ihrem schnellsten Vormarsch seit der Abwehr des russischen Angriffs auf die Hauptstadt in Kiew im März. In dem Gebiet hat ein Reuters-Reporter beobachtet, wie die ukrainische Polizei in Städten patrouillierte. An Stellungen, die von russischen Soldaten auf ihrer Flucht aufgegeben wurden, lagen zuhauf Munitionskisten.

Ausgebrannte Fahrzeuge in Hrakowe.
Foto: REUTERS/Vyacheslav Madiyevskyy

In Hrakowe, einem von Dutzenden zurückeroberten Dörfern, waren ausgebrannte Fahrzeuge zu sehen, auf denen das "Z" prangte – das Zeichen der am 24. Februar begonnenen russischen Invasion. Munition und Müll häuften sich in aufgegebenen Stellungen, die russische Soldaten offensichtlich in großer Eile verlassen hatten. Auf einem Hof lagen drei Tote in weißen Leichensäcken.

Der regionale Polizeichef Wolodymyr Timoschenko sagte, die ukrainische Polizei überprüfe nun die Identität der Anwohnerinnen und Anwohner, die seit Beginn der Invasion unter russischer Besatzung gelebt hätten. Die erste Aufgabe der Polizei bestehe darin, Hilfe zu leisten, wo diese nötig sei. "Die nächste Aufgabe ist es, die Verbrechen zu dokumentieren, die von russischen Invasoren in den von ihnen vorübergehend besetzten Gebieten begangen wurden."

Ukrainische Stellen haben zahlreiche Bilder und Videos veröffentlicht, die zeigen, wie die einheimischen Soldaten in von russischen Truppen geräumte Ortschaften einmarschieren. Immer wieder ist zu sehen, wie die ukrainische Flagge gehisst wird und wie Bewohnerinnen und Bewohner, die sechs Monate unter russischer Besatzung lebten, die eigenen Soldaten umarmen.

Die Offensive der Ukraine im Osten kam überraschend und nur eine Woche nach Beginn des lange erwarteten ukrainischen Gegenangriffes an der Front im Süden in Cherson. Über den Einsatz in dieser Region, die gegenüber der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim liegt, wurden bisher weniger Informationen veröffentlicht. Doch auch dort hat die Ukraine nach eigenen Angaben Erfolge verbucht. So ist es demnach ihren Truppen gelungen, Tausende russische Soldaten, die sich am Westufer des Dnipro (Dnjepr) aufhalten, zu isolieren. (APA, Reuters, 10.9.2022)