Norbert Gstrein (61) ist ein herausragender Erzähler. Seine langen Sätze sind zart, klar und makellos.

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Ein Logikfehler steht am Anfang von Norbert Gstreins neuem Roman: Warum hat der Tiroler Hotelierpatriarch in dritter Generation, der sich als Inhaber eines Fünfsternehauses in aufgesetzter Bescheidenheit selbst lieber "Pensioner" nennt, zur ihm so wichtigen Fortführung des Familienbetriebs nur ein eheliches Kind gezeugt? Mindestens noch ein Spross als Absicherung wäre nur logisch.

Allerdings hätte das einerseits den Vater-Sohn-Konflikt von Vier Tage, drei Nächte, der gerade darin besteht, dass Sohn Elias – Mitte 30, Flugbegleiter, schwul – kein Interesse am väterlichen Imperium hat, entschärft. Servieren könne er, die "Luftkellnerin", doch auch im eigenen Hotel, stichelt der Vater gerne.

Andererseits hätte ein weiteres Geschwisterchen das auf ein unzertrennliches Duo hinauslaufende Figurengefüge zunichtegemacht. Elias hat eine Halbschwester, Ines. Der Vater hat sie zeitgleich wie den Sohn mit einer deutschen Urlauberin gezeugt. Die kam daraufhin jedes Jahr mit der Tochter immer wieder, die Kinder freundeten sich an, ohne um ihre tiefere Verbindung zu wissen.

Als das Buch einsetzt, ist das Geheimnis zwar schon lange gelüftet. Ihre Beziehung zueinander steckt aber seither in einem ambivalenten Zustand fest: "Ich liebte Ines, weil sie meine Schwester war, und ich liebte Ines, obwohl …" Zuweilen schlafen sie im selben Bett. Elias dackelt Ines nach, liest Bücher, die sie gelesen hat, hat schon einen Liebhaber von ihr übernommen, als sie beim Studium zusammenwohnten.

Nunmehr lebt Elias in München. Da Corona über Europa hereingefallen ist und er nicht in die Luft kann, besucht er natürlich Ines in Berlin.

Entrücktes Kammerspiel

Nein, trotz Masken, Ausgangssperren und Mutationen ist Vier Tage, drei Nächte kein Corona-Roman. Die Merkmale der Pandemie grundieren ihn nur, ohne dabei mehr zu leisten, als alle Erfahrungen zu doppeln. Wir sind vielmehr Zeugen eines Kammerspiels um die Geschwister. Für so etwas wie Gesellschaft ist darin kein Platz. Um ungestört an ihrem neuen Buch über Liebesbriefe zweier toter Dichter arbeiten zu können, hat die Literaturwissenschafterin Ines sich zum Beispiel ein Haus gemietet und die Räume mit Tüchern verhängt.

So baut Gstrein ihnen eine wie in Watte gepackte Welt. Praktische Sorgen liegen den Geschwistern fern. Der Vater erpresst oder manipuliert sie entweder über Geld und teure Autos oder über seine Blutdruckwerte. Ines nimmt die Gaben gerne an, zeigt ihm sonst die kalte Schulter. Elias kann sich nicht so gut lösen, ihn macht das Blutdruckmessgerät schnell nervös: 180! 200!

Gstrein erzählt in langen, schwingenden, zarten, makellosen Sätzen. Der Besuch in Berlin bietet neben gemeinsam verlebten Tagen vor Weihnachten mindestens die Hälfte des Buches lang Gelegenheit für Blicke zurück. So harmlos Elias "heute" scheint, so viel Schatten wirft Gstrein in diesen auf seine Hauptfigur. Elias’ Liebe zu Ines wuchs sich nämlich schon mehrmals zur Gefahr für andere aus. Da ist einmal der Urlauberbub, der sich das Genick gebrochen hat, nachdem Elias ihn, wegen Ines, zur einer Skiabfahrt herausgefordert hatte. Oder der Verehrer von Ines in den USA, den Elias beim Wandern einen Schotterhang hinabgestoßen hat.

Trotz Qualität im Zentrum leer

Gewissensbisse und Konsequenzen? Fehlanzeige. Elias ist ein Meister der Unterwerfung, und er tut ja alles nur aus Liebe. Fast lustvoll fügt er sich ebenso Ines’ Wutausbrüchen. Auch den neuen Liebhaber, der in eine gute Hamburger Familie eingeheiratet hat und sich nun aus der Villa stiehlt, um stundenlang mit ihr zu telefonieren, blafft sie aus Jux an.

Man kann sich an so schillernden Details und an den eigenwilligen Figuren freuen. Treue Leser werden Abgleiche mit Als ich jung war (2019) und Der zweite Jakob (2021) vornehmen: Man kennt viele Motive schon aus diesen Romanen, der Österreichische Buchpreis honorierte das.

Die ästhetische Qualität lenkt aber irgendwann nicht mehr davon ab, dass das Zentrum leer ist. Die geschwisterliche Koexistenz schlägt keine neue Richtung mehr ein. "Mein Unbehagen kam daher, (...) dass es nicht reichte, eine Geschichte zu erzählen, wenn sich aus der Geschichte nicht erschloss, warum sie erzählt wurde", stellt Elias fest. Man kann diesem kunstvollen Buch nichts anderes als das vorwerfen. (Michael Wurmitzer, 12.9.2022)