In den 1970er-Jahren war das Leben einfacher als heute. Es gab einen gemeinsamen, durchs Fernsehen geprägten Kommunikationsraum, mit Programmen wie Am Dam Des, Panoptikum, Club 2 und Einer wird gewinnen. Das heißt nicht, dass wir gleichgeschaltet dachten, im Gegenteil. Hitzige Debatten reichten von Kapitalismus vs. Sozialismus über Gleichberechtigung und Nachrüstung bis zur Gewalt durch links- und rechtsextreme Terroristen.

Ganz links: der moderne Konservative Aldo Moro als italienischer Premierminister.
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Politisch positionierte man sich relativ zu einem Grundgefühl des Fortschritts: harte Konservative wie George Wallace oder Enoch Powell stemmten sich dagegen, moderne Konservative wie Aldo Moro und Josef Krainer junior versuchten, ihn bürgerlich zu interpretieren. Die Sozialdemokratie und andere linke Gruppierungen bis hin zu Maoisten sahen sich als jeweilige Speerspitze des Fortschritts, mit dem Ziel, den "Muff von tausend Jahren" loszuwerden.

Heute kommuniziert man, durch Algorithmen marketingtechnisch mikrosegmentiert, in Blasen. Mit Andersdenkenden redet man wenig, nicht nur, weil sie anderer Meinung sind, sondern weil sie qua eine andere Meinung offensichtlich unethisch sein müssen. Die Idee eines Fortschritts haben wir durch wütendes Verlustdenken ersetzt, Utopien verdrängt durch technologisch determinierte Dystopien.

Wähler-Potenziale

Das sehen wir nicht nur an Fernsehserien von damals und heute, auch Parteien ersetzen weltanschaulich geprägte Programme durch schnöde Machtmechanik, mit wachem Blick auf Meinungsumfragen und in diesen aufgezeigten "Wähler-Potenzialen".

So war die FPÖ vehement für EU- und Nato-Beitritt, bis sie dagegen war. Die ÖVP war für ein Berufsheer, bis die SPÖ plötzlich, wahltaktisch getrieben, auch dafür war, worauf die ÖVP umgehend dagegen sein musste. Traditionelle Parteien sind ideologisch entkernt, tönerne Großzwerge, Wahlvereine, die niemanden mehr inspirieren.

Weit links und weit rechts sind heute gleichermaßen reaktionär, mit Versatzstücken aus dem letzten Jahrhundert. Zeitgemäße Feministen sind für ein Verbot der Prostitution, wie Katholiken aus den 1950ern. Linke wie Jean-Luc Mélenchon, Jeremy Corbyn und Sahra Wagenknecht und Rechte wie Matteo Salvini, Herbert Kickl und Josh Hawley rekurrieren auf das Appeasement und den Isolationismus der 1930er. Mehr Staat wollen sie alle, wie ihre Großeltern am Ende des Zweiten Weltkriegs, für die Interessen ihrer Klientel und zur Absicherung der eigenen Macht. Ein gebrochenes Verhältnis zu freien Medien haben sie oft auch.

Verteidigung als "Fortschritt"

Die Folge ist, dass der Fortschritt heute die bloße Verteidigung dessen ist, was Demokratien seit der letzten Verwüstung der Welt mühsam aufgebaut haben: Meinungsfreiheit; die Freiheit von Kunst und Medien; unabhängige Gerichte; freie Wahlen; körperbestimmte Rechte, von der Abtreibung bis zur Sterbehilfe; das Recht auf selbstbestimmtes Heiraten; freie Wirtschaft und Wettbewerb statt Etatismus und Monopolen.

Verteidigung alleine darf uns nicht genügen. Die Sisyphos-Arbeit unserer Generation ist es deshalb, die Debattenkultur wiederzubeleben, damit wir als Gesellschaft gemeinsam – und darum muss es letztlich gehen – voranschreiten. (Veit Dengler, 12.9.2022)