Expertenrat eingesetzt: Neue Kritik an Weltkunstschau in Kassel.

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Das von den Documenta-Gesellschaftern eingesetzte Expertengremium zur Aufarbeitung der Antisemitismusvorwürfe gegen die Weltkunstschau in Kassel fordert, propalästinensische Propagandafilme auf der Ausstellung nicht mehr zu zeigen. So sei es aus Sicht der Experten die dringlichste Aufgabe, die Vorführung eines Beitrags des Kollektivs Subversive Film zu stoppen, heißt es in einer am Samstag veröffentlichten ersten Einschätzung des Beirats.

Hoch problematisch an dem Werk "Tokyo Reels Film Festival" seien nicht nur "die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente", sondern auch "die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren", teilte das Gremium auf der Internetseite der documenta gGmbH (sic!) mit. Das Material, eine Kompilation propalästinensischer Propagandafilme aus den 1960er- bis 1980er-Jahren, werde nicht kritisch reflektiert, "sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert." Dadurch stellten die Filme in ihrer potenziell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk "People"s Justice" des Kollektivs Taring Padi.

Eine eventuelle Wiederaufnahme der Vorführungen der Filme sei nur denkbar, "wenn diese in einer Form kontextualisiert würden, die ihren Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert".

Neuerliche Kritik an Ruangrupa

In einer zweiten Erklärung wirft ein Teil des Beirats der künstlerischen Leitung der Documenta Fifteen, dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa, kuratorische Unausgewogenheit vor. Nahezu alle Werke, die sich mit dem arabisch-israelischen Konflikt beschäftigten, brächten "einseitig kritische bis hin zu dezidiert israelfeindlichen Haltungen" zum Ausdruck. Diese Erklärung trägt die Unterschrift von fünf der sieben Mitglieder des Gremiums.

Die Documenta Fifteen wird schon seit Monaten von Antisemitismusvorwürfen begleitet. Mehrere Werke wurden als judenfeindlich kritisiert. Das Banner "People"s Justice" des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi wurde wegen judenfeindlicher Darstellungen abgebaut. Angesichts der Vorwürfe hatten die Gesellschafter, die Stadt Kassel und das Land Hessen, ein Expertengremium aus sieben Wissenschafterinnen und Wissenschaftern benannt, das die Weltkunstschau fachwissenschaftlich begleiten solle.

Wird Empfehlung nicht nachkommen

In einer Stellungnahme der Documenta für das Berliner Kunstmagazin "Monopol" hieß es am Montag nach Angaben des Magazins: "Die Geschäftsleitung der Documenta und Ruangrupa haben die Einschätzung des Expert*innengremiums zur Kenntnis genommen. Der Empfehlung einer vorübergehenden Entnahme der Arbeit "Tokyo Reels" von Subversive Film aus der Ausstellung möchte Ruangrupa, denen als künstlerische Leitung der Documenta Fifteen die alleinige Entscheidung darüber zusteht, nicht nachkommen."

"Wir sind wütend, wir sind traurig, wir sind müde, wir sind vereint", lautet der erste Satz eines Briefs, den zahlreiche Künstler und das Kuratorenkollektiv Ruangrupa an den Aufsichtsrat sowie die Gesellschafter der Weltkunstschau, an den Oberbürgermeister und die Kasseler Kulturreferentin, an die Kulturministerinnen Hessens und der Bundesrepublik und an das Publikum geschrieben haben. Mit der Empfehlung des Expertengremiums sei "eine neue Grenze überschritten", weshalb die Beteiligten den Bericht "kategorisch zurückweisen", heißt es. Denn darin würde eine "rassistische Tendenz in einer schädlichen Struktur von Zensur" erkannt. Die Einschätzung reproduziere schlecht recherchierte Behauptungen der Medien, so die Kritik, und weise keine wissenschaftlichen Belege vor.

Weiters sei die Definition von Antisemitismus in dem Bericht auf jene der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) gestützt, die als hochproblematisch eingestuft werde, da sie Kritik am Staat Israel und Kritik des Zionismus mit Antisemitismus gleichsetze. Somit würde ein Zusammenhang geschaffen, in dem Lumbung und seine Struktur, die palästinensischen Künstler auf der Schau, ihre Werke und schließlich die gesamte Documenta Fifteen unvermeidlich verdammt würden. (APA, red, 12.9.2022)