Jedes Jahr im Herbst und für die Dauer eines Wochenendes färbt sich das kleine Städtchen Pontarlier in den französischen Alpen komplett grün. Grün die Kleidung der Bewohner, grün die Wimpel und Fahnen am Straßenrand, grün auch die mächtige Porte Saint Pierre, das ehemalige Stadttor und Wahrzeichen der Stadt. Und mitten am Hauptplatz steht die Pappmascheefigur einer grünen Fee.

Gefeiert werden die alljährlichen sogenannten Absinthiaden. "Pontarlier ist die Welthauptstadt des Absinths", sagt mit Stolz der Mann vom städtischen Museum, wo dem Getränk gleich mehrere Räume gewidmet sind, "deswegen kommen ganzjährig sowie alljährlich zu dem Festival tausende Menschen aus der ganzen Welt, um hier bei uns ihrem Lieblingsgetränk zu huldigen."

Ein Schweizer Plakat zum Absinth-Verbot aus dem Jahr 1910. Der Kräuterschnaps wurde erst in den 2000ern wieder zugelassen.
Foto: Perret Guillaume Route de l’Absinthe

Mit gerade einmal zwei Destillerien, die bis heute in dem properen Provinzstädtchen Absinth erzeugen, scheint der Begriff Welthauptstadt doch etwas hoch gegriffen. Aber vermutlich bezieht sich der junge Mann mit Namen Fabrice eher auf die Vergangenheit und die Geschichte des Ortes. Denn bis vor hundert Jahren war die Absinthproduktion hier tatsächlich ein bedeutender Wirtschaftszweig, in dem knapp die Hälfte der damaligen Bevölkerung arbeitete, aufgeteilt auf 26 Destillerien. Dabei stammt die Kräuterspirituose gar nicht von hier, sondern aus der nahen Schweiz.

Dort, jenseits der Grenze im Kanton Neuenburg im helvetischen Teil des Juras, wurde Ende des 18. Jahrhunderts das mythische und sagenumwobene Getränk erfunden, das bald darauf den Namen Absinth erhalten sollte. "Der Name stammt vom Wermutkraut, das auf Lateinisch Artemisia absinthium heißt", erklärt Fabrice. "Dieses und andere Kräuter wie Fenchel und Anis werden zur Erzeugung des Absinths verwendet."

Explosion der Produktion

Vermutlich aus zolltechnischen Gründen übersiedelte der Schweizer Absinthproduzent Henri-Louis Pernod nach Pontarlier, um von hieraus den bedeutenderen französischen Markt leichter bedienen zu können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts explodierte die Produktion auf beiden Seiten der Grenze. Die Spirituose wurde zum Symbol der Belle Époque, ganz Frankreich zog sich am frühen Abend zur "heure verte", zur grünen Stunde zurück, um sich dem Rausch des Getränks hinzugeben und sich davon inspirieren zu lassen.

Etliche Künstler, unter ihnen Van Gogh und Degas, oder die sogenannten "poètes maudits", die "verfemten Dichter", wie Rimbaud und Verlaine, arbeiteten im kontinuierlichen Absinthrausch, andere widmeten dem Getränk auch Werke wie Gemälde und Gedichte. Die sogenannte grüne Fee wurde zur Quelle der Inspiration und zu einem regelrechten Kulturgut dieser vergnügungssüchtigen Zeit.

Doch irgendwann ging der allgemeine Absinthexzess der Obrigkeit dann doch zu weit. Kampagnen wurden gestartet, um vor den Gefahren des Getränks zu warnen. "Heute weiß man, dass diese Kampagnen auch von der Weinwirtschaft gefördert wurden", erzählt Fabrice vom Museum. Denn zu der Zeit war Absinth billiger als Wein. Und die mächtigen und einflussreichen Besitzer der Weingüter und Châteaux sahen es überhaupt nicht gerne, wie "dahergelaufene Bergbewohner" ihnen das Geschäft streitig machten.

Plötzlich beschuldigte man den Absinth, für alle möglichen Krankheiten und Übel verantwortlich zu sein, darunter etwa Syphilis und Tuberkulose, aber auch für Arbeitsscheue und Sittenverfall. Vor allem dem Nervengift Thujon, das im Wermut enthalten ist, wurden verheerende Wirkungen zugesprochen, die von der modernen Wissenschaft jedoch niemals bestätigt werden konnten. Heute geht man eher davon aus, dass der hohe Alkoholgehalt und die schlechte Qualität, also die darin enthaltenen Fuselstoffe, für die negativen Auswirkungen des Absinthkonsums verantwortlich waren.

Die grüne Fee wurde zu einem regelrechten Kulturgut.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Im Museum von Pontarlier hängen unzählige Plakate aus dieser Zeit, die die vermeintlichen Schrecken des Getränks auf furchterregende Weise anprangern. Man prägte den Begriff Absinthismus, um in Wahrheit von Alkoholismus zu sprechen, dabei aber den Wein auszusparen. Und so geschah es, dass im Jahr 1915 die französische Regierung das Getränk verbot. "Für Pontarlier war das ein sehr schwerer Schlag", sagt Fabrice mit ernster Miene. Der Großteil der europäischen Länder folgte dem französischen Beispiel, unter ihnen auch Österreich-Ungarn.

Das Örtchen Pontarlier in Frankreich gilt als Welthauptstadt des Absinths.
Foto: Georges Desrues
Heute gibt es aber nur mehr zwei Destillerien.
Foto: Georges Desrues
In der Distillerie les Fils d’Emile Pernot, die auch ein Museum beherbergt, ...
Foto: Georges Desrues
... wird unter anderem Absinth produziert, der drei Jahre lang reift und es auf 65 Volumenprozent bringt.
Foto: Georges Desrues

Grünes Licht für Absinth

Seit Beginn der 2000er-Jahre ist Absinth in den meisten Staaten Europas wieder zugelassen, darunter auch in Frankreich und in der Schweiz, wo inzwischen eine grenzüberschreitende Absinthstraße eingerichtet wurde, aber auch in Österreich. Hierzulande zählt Wolfram Ortner zu gleich mehreren heimischen Destillateuren, die den Absinth wiederentdeckt und in seine Produktion aufgenommen haben.

In seiner Brennerei in Bad Kleinkirchheim erzeugt der ehemalige Weltklasse-Schifahrer einen Absinth mit 49,5 Prozent Alkohol. "Im Unterschied zu anderen Sorten auf dem Markt, handelt es sich bei unserem Absinth wie bei allen unseren Produkten um ein reines Destillat", erklär Ortner. Was wiederum bedeute, dass die drei Grundelemente jedes Absinths, nämlich Wermut, Fenchel und Anis, zusammen mit dem Alkohol in die Brennblase kommen und destilliert werden. Im Gegensatz dazu lassen andere Produzenten die Kräuter einfach im Alkohol mazerieren. "Durch die Destillation gerät natürlich auch weniger des Nervengifts Thujon in den Alkohol", betont Ortner, "die gesetzlich zugelassene Grenze von 35 Milligramm pro Kilogramm erreichen wir auf diese Weise nie und nimmer."

Bittertöne

Nachteil der Destillation gegenüber der Mazeration sei indessen, dass naturgemäß keine Farbe in das Getränk gelange, Ortners "WOB Absinthe – Abs.in" also nicht von Natur aus mit der gewünschten grünen Farbe aufwarten kann, die sich viele Konsumenten erwarten. Doch das lasse sich mit natürlichem Farbstoff wie Chlorophyll leicht beheben, ergänzt der Brenner. "Das wahre Qualitätsmerkmal eines guten Absinths ist, dass der Geschmack in erster Linie von den Bittertönen des Wermuts geprägt ist", fährt er fort, "ohne sie wäre es nämlich kein echter Absinth, sondern ein einfacher Anisschnaps." Zu dominant dürften die Bittertöne allerdings auch nicht ausgeprägt sein, weil viele Kunden das nicht wünschten.

Getrunken werde sein Absinth so wie jeder andere verdünnt mit Wasser in einem Verhältnis eins zu drei oder, wenn man es etwas stärker wünscht, eins zu zwei, sagt Ortner. Auf das Ritual mit dem speziellen Löffel und dem Stück Würfelzucker darauf, das man anzündet, bevor man es mit der Spirituose übergießt, könne man indessen verzichten. Das sei nämlich ausschließlich für Absinth mit über 70 Prozent Alkoholgehalt bestimmt. Bedauerlich wäre so ein Verzicht dennoch.

Ist doch das alchimistisch anmutende Ritual mit dem perforierten Löffel, mit dem Würfelzucker und dem altmodischen Wasserspender, den man Fontäne nennt, ein zentrales Element des Genusses von Absinth. Zumal erst durch das über den Zucker tropfende Wasser aus den ätherischen Ölen des Anis die kennzeichnenden Schlieren im Glas entstehen. Und doch sie es sind, dem das Getränk seinen klingenden Beinamen verdankt: die grüne Fee. (Georges Desrues, 24.9.2022)