Ökonom Franz R. Hahn kritisiert in seinem Gastkommentar, wie Europas Institutionen mit der Gaskrise umgehen.

Wladimir Putin kann mit dem, was er da angerichtet hat, sehr zufrieden sein. Der Überfall auf die Ukraine ist zwar nicht ganz so gelaufen wie geplant, dafür haben ihn aber die Westeuropäer mehr als schadlos gehalten. Dass Verlass ist auf "westliche Energiemärkte", wenn man sie etwas ängstigt, mag ihn nicht wirklich überrascht haben. Dass aber sämtliche Institutionen, von der Europäischen Kommission bis zur Zentralbank, von den nationalen Regierungen einmal ganz abgesehen, wie verdattert das Preischaos auf ihren Strom- und Erdgasmärkten einfach widerstandslos geschehen lassen, das hat ihn wahrscheinlich doch etwas überrascht, sicherlich aber diebisch gefreut.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Zinsen erneut angehoben: EZB-Chefin Christine Lagarde.
Foto: Reuters/KAI PFAFFENBACH

Da kann man nichts machen, so sind sie halt, die Energiemärkte, sagen die europäischen Regierungen zu ihrer Rechtfertigung und berufen sich dabei auf die Expertise ihrer Wirtschaftsexperten. Dafür übertreffen die Europäer einander in der Ankündigung "sozial treffsicherer Stützungsmaßnahmen" für die von der Preistreiberei besonders gefährdeten Bevölkerungsschichten. Angesichts einer nunmehr unübersichtlichen Plethora unterschiedlich strukturierter Maßnahmen erscheint einem da die "gemeine Gießkanne" geradezu als Inbegriff wirtschaftspolitischer Effizienz.

Panik und Chaos

Was ist da vorab eigentlich abgelaufen? Putin hat als Antwort auf die Sanktionen der Westeuropäer im Zusammenhang mit dem Einfall Russlands in die Ukraine angekündigt, die Gaslieferungen nach Westeuropa zu drosseln. Die Lieferreduktion folgte auf den Fuß. Das war’s: Mehr brauchte er nicht zu tun.

Für das eigentliche Schlamassel sorgten verlässlich die Westeuropäer schon selbst beziehungsweise ihr Marktmechanismus. Die europäischen Energiemärkte gerieten in Panik und stürzten ins Chaos, weil – so die leicht naive Erklärung – börsenbasierte Märkte unter Schock leicht einmal außer Rand und Band geraten. Auf Börsen werden ja nicht nur Waren, sondern vor allem Erwartungen gehandelt. Letzteres vor allem auf den mit Warenbörsen unmittelbar vernetzten Futures-Märkten. Dort werden Erwartungen über die zukünftige Preisentwicklung von börsenmäßig gehandelten Waren so strukturiert getauscht, dass daraus unmittelbar aktuelle Preisänderungen abgeleitet werden können. Aktuelle Preisentwicklungen auf den Warenbörsen (Spotmarkt) sind damit unmittelbar gekoppelt mit der erwarteten zukünftigen Preisentwicklung auf den Trabanten-Märkten (Futures-Märkten). Sie beeinflussen sich wechselseitig und entwickeln sich parallel, dafür sorgen sogenannte Arbitrageure, das sind Händler, die risikolos Preisunterschiede zwischen Spot- und Futures-Märkten ausnutzen.

"Für das eigentliche Schlamassel sorgten verlässlich die Westeuropäer schon selbst beziehungsweise ihr Marktmechanismus."

Allein die Drohung Putins, die Gaslieferung nach Westeuropa gänzlich auszusetzen, reichte vollends, um eine Preisrallye auf den Futures-Märkten – und damit auch auf den eigentlichen Energiebörsen – auszulösen, die ihresgleichen sucht. Die Energiepreise explodierten ins Unermessliche (irrationale Übertreibung) und führten zu der Absurdität, dass Russland bei stark reduzierten Liefermengen Rekorderlöse lukrierte.

Börsenregeln sind primär dazu da, derartige Fehlentwicklungen zu verhindern, zumindest aber stark abzuschwächen. Eine der Börsenregeln auf Futures-Märkten, die stabilisierend wirken sollen, erfordert von Akteuren permanente Verfügbarkeit von ausreichend "Spielgeld" (Margin). Das heißt, der Liquiditätsbedarf für Händler wird laufend an das Marktgeschehen angepasst und per Kautionshinterlegung gesichert. Je höher beziehungsweise extremer (niedriger beziehungsweise moderater) die Wetten, desto höher (geringer) das Spielgelderfordernis.

Unerwartet hoher Liquiditätsbedarf

Die Händler sichern daher, um bei unerwartet hohem Liquiditätsbedarf nicht aus dem Markt zu fallen, ihre Liquiditätskraft durch entsprechende Kreditlinien bei ihren Hausbanken ab. Und hier hätte sich eine von mehreren Gelegenheiten für zwei wichtige europäische Institutionen, die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) und die Europäische Zentralbank (EZB), geboten, unmittelbar korrigierend in das wirre, den üblichen Handelsablauf sprengende Geschehen auf den europäischen Energiebörsen einzugreifen. Die Banken schwimmen dank der bereits mehr als ein Jahrzehnt andauernden extrem expansiven Geldpolitik der EZB in Liquidität. Sie ergriffen die Gunst der Stunde und nützen den gegenwärtig hohen Liquiditätsbedarf und die hohen Gewinnmargen auf den Energiemärkten, um auch ihrerseits die Ertragslage merklich aufzufetten. Wenn es dann auch ihnen einmal zu bunt wird, ziehen sie die Reißleine (Stichwort: Wien Energie). Dann muss halt die öffentliche Hand übernehmen, wenn es nicht krachen soll.

EBA und EZB hätten diese "irrationale Übertreibung" durch vorausschauende Interventionen (vorab deutliche Zinserhöhung oder Erhöhung der Eigenkapitalunterlegung von Kreditlinien an Energiehändler, vor allem an Energiespekulanten) wenn schon nicht verhindern, so doch deutlich abschwächen können. Nichts davon ist bekanntlich geschehen. Der nunmehr erfolgte Zinsschritt der EZB war daher mehr als überfällig. Ob er historisch und wirkungsvoll ist, bleibt dahingestellt (eher nicht). Sicher ist, er kommt historisch (zu) spät.

Kollateralschaden verursacht

Der durch die Fehlleistungen dieser beiden zentralen EU-Institutionen verursachte Kollateralschaden lässt sich vor allem durch "systemfremde" Ad-hoc-Maßnahmen, wie von der Europäischen Kommission und einigen EU-Energieministern jüngst lanciert (Gaspreisdeckel, Übergewinnsteuer), nicht aus der Welt schaffen. Er ist da, um zu bleiben. Direkte Markteingriffe sind da kontraproduktiv, sie verstärken eher das bestehende Chaos, anstatt es zu mindern.

Europäischer Kommission, nationalen Regierungen und Wirtschaftsexperten verbleibt stattdessen nurmehr, noch nachdrücklicher zu allgemeinem Energiesparen aufzurufen. Banken und Energieversorger allerorten dürfen sich derweil weiterhin im Windschatten dieses Irrsinns satter Extragewinne erfreuen, private Haushalte und Unternehmen sich hingegen "auf die harte Tour" an horrend hohe Energiekosten gewöhnen. Und Putin lacht. (Franz R. Hahn, 13.9.2022)