"Durch die Lieferkürzungen versucht Russland, Angst und Unsicherheit in den Bevölkerungen der EU-Staaten zu verstärken", sagt der Politikwissenschafter Gerhard Mangott im Gastkommentar.

Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Wirtschaftsforum in Wladiwostok vergangene Woche.
Foto: Reuters / Sputnik / Sergei Bobylyov

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, umso mehr wird danach gefragt, ob die westlichen Sanktionen gegen Russland denn wirklich wirkten. Zweifel kommen auf, ob Russland durch die Sanktionsbeschlüsse wirklich Schaden zugefügt wird. Bisweilen ertönen Stimmen, die Sanktionen schadeten der EU mehr als Russland. Die Antwort auf diese Stimmen ist klar: Die westlichen Sanktionen gegen Russland wirken. Jetzt schon und mit jedem Monat mehr.

Die russische Volkswirtschaft wird 2022 um mindestens sechs Prozent einbrechen; manche Schätzungen sehen einen Einbruch von bis zu zehn Prozent. Das wäre die stärkste Rezession in Russland seit den Neunzigerjahren. Die Inflation ist stark gestiegen; sie wird heuer vermutlich bei 14 Prozent liegen. Der Außenwert des Rubels wird nur durch strikte Kapitalverkehrskontrollen stabil gehalten. Unzählige westliche Firmen haben den russischen Markt verlassen; die Verfügbarkeit ausländischer Waren in russischen Geschäften ist deutlich zurückgegangen.

"Putin wird den Krieg in der Ukraine weiterführen, wie viele neue Sanktionspakete die EU auch immer beschließen wird.

Es ist zweifellos richtig, dass sich die russische Volkswirtschaft als resilienter erwiesen hat als erwartet. Die Verbote des Exports von Hochtechnologie werden aber mittel- bis langfristig zu schweren Einbrüchen in der Zivil- und Rüstungsindustrie Russlands führen.

Was aber können die Sanktionen bewirken? Sie werden nicht erreichen, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine beendet. Die Verhaltensänderung des sanktionierten Staates ist eigentlich ein zentrales Ziel von Sanktionen. Der russische Präsident Wladimir Putin wird den Krieg in der Ukraine aber weiterführen, wie viele neue Sanktionspakete die EU auch immer beschließen wird. Seine geopolitischen Ambitionen in der Ukraine sind ihm wichtiger als das wirtschaftliche, finanzielle und soziale Wohlergehen seines Landes.

Auch ein Signaleffekt

Die Sanktionen aber bestrafen Russland für die Invasion. Die wirtschaftlichen und finanziellen Folgewirkungen werden immer stärker sichtbar werden. Mittel- bis langfristig werden es die Sanktionen für Russland zudem schwieriger machen, eine aggressive, gewaltbereite Außenpolitik zu verfolgen. Der Bestrafungs- und der restringierende Effekt der Sanktionen wird daher zweifellos erreicht. Auch der Signaleffekt gegenüber anderen Staaten, dass ähnliche Handlungen durch harte Sanktionen bestraft werden, dürfte auf absehbare Zeit wirken.

"Drastische Lieferkürzungen und Lieferunterbrechungen waren die Antwort auf die Sanktionen der EU."

Die Sanktionen belasten aber natürlich auch den Sanktionsgeber: Exporteinbußen und hohe Energiepreise sind dafür die sichtbarsten Zeichen. Es stimmt schon, dass Gazprom bereits vergangenes Jahr begonnen hat, die Gaslieferungen an die EU zu verknappen. Geliefert wurden nur vertraglich vereinbarte Mengen. Zusätzliches Gas wurde auf dem Spotmarkt trotz attraktiver Preise nicht angeboten. Speicher der Gazprom wurden nicht befüllt. Drastische Lieferkürzungen und Lieferunterbrechungen waren dann aber die Antwort auf die Sanktionen der EU. Der hohe Gas- und damit Strompreis sind daher zweifellos auch (!) Folgen der Sanktionen.

Durch die Lieferkürzungen versucht Russland, Angst und Unsicherheit in den Bevölkerungen der EU-Staaten zu verstärken. Angst davor, die Energierechnungen nicht mehr bezahlen zu können; Angst davor, zu wenig Gas und Strom zur Verfügung zu haben; Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, weil energieintensive Branchen ihre Produktion drosseln oder gar einstellen müssen. Das Kalkül der russischen Führung ist, dass aus der Angst vehementer Straßenprotest werden könnte und der Druck auf europäische Regierungen steigen wird, die Haltung zum Ukraine-Krieg und zu den Sanktionen zu verändern.

Was ist wichtiger?

Die Sanktionen erzeugen also sehr wohl Kosten auf der Seite der sanktionsgebenden Staaten. Das lässt die Stimmen stärker werden, dass die Sanktionen aufgehoben werden sollen. Letztlich ist es eine Entscheidung der Regierungen, wie sie die Güterabwägung vornehmen. Was ist wichtiger: die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung ihrer staatlichen Eigenständigkeit oder das Vermeiden eines Wohlstandsverlustes in der EU? Die Regierungen der EU haben diese Güterabwägung vorgenommen. Das Wohl der Ukraine ist als wichtiger eingestuft worden.

Daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, wenn es in Europa einen Winter der Unruhen und Proteste geben sollte. Die Regierungen der EU-Staaten versuchen nun, diese Proteste durch die finanzielle Unterstützung der Bevölkerung bei den Energiekosten gleichsam wegzukaufen. Das ist auch völlig richtig, weil viele ihre Energiekosten nicht tragen können. Ein großer Teil dieser Summen wird durch neue Schuldenaufnahmen aufgebracht werden. Das belastet auf lange Sicht die Steuerzahlenden und ihre Nachkommen. Eine höhere Verschuldung ist also auch eine indirekte Wirkung der Sanktionen auf den Sanktionsgeber. Es ist völlig legitim, das in Kauf zu nehmen. Die Güterabwägung ist die Sache der Regierenden; sie haben dafür auch die Verantwortung zu tragen. (Gerhard Mangott, 13.9.2022)