Spuren des russischen Rückzugs aus der ukrainischen Region um Charkiw: ein zerstörter Panzer.

Foto: Imago/David Ryder

Wenn ein Krieg eine "Spezialoperation" ist, wird aus einer hastigen Flucht eine wohlgeplante "Umgruppierung": Russland, dessen Armee am Wochenende seine schwerste Niederlage in der Ukraine seit dem Frühling erlitten hat, leckt seine Wunden – wenn auch bisher noch mehr verdeckt als offen. Ganz so, als ob nichts gewesen wäre, eröffnete Präsident Wladimir Putin am Samstag in Moskau ein Sportzentrum. Hinter den Kulissen regt sich allerdings langsam, aber stetig Kritik am Kurs des Kreml. In Telegram-Gruppen, die eigentlich stets eisern das Regime beklatschen, beginnt man sich zu fragen, ob der Krieg, der nicht so heißt, so noch zu gewinnen ist. Und ob der Zweck nicht auch nukleare Mittel heiligt.

Frage: Wie kam es zu der massiven Gegenoffensive der ukrainischen Armee?

Antwort: Schon im Sommer rechneten Fachleute mit einer Offensive der ukrainischen Armee, noch vor zwei Wochen schien aber zweifelhaft, ob sie noch kommt: Zu festgefahren war der Abnutzungskrieg, zu spärlich langten die westlichen Waffen in der Ukraine ein. Seit Anfang September hat sich das Blatt gewendet – jedenfalls für den Moment. Buchstäblich unter dem Radar der russischen Aufklärung gelang es der Ukraine, ihre Truppen im Nordosten, bei Charkiw also, massiv zu verstärken. Möglich machten es die US-amerikanischen Anti-Radar-Raketen AGM-88 Harm, die russische Luftverteidigungssysteme und Radaranlagen ausschalteten.

Mutmaßlich die USA waren es auch, die Kiew per Echtzeitinformationen über die Schwachstellen der russischen Armee an der langen Front aufklärten. Während die ukrainische Armee im Süden, bei Cherson, gezielt die Brücken über den Dnipro ins Visier ihrer – ebenfalls aus den USA gelieferten – Himars-Mehrfachraketenwerfer nahm und die Russen so von der Versorgungslinie abschnitt, gelang es ihr im Norden bei Balaklija, die russische Armee zu überrumpeln. "Auch wenn es Moskau nun als geordneten Rückzug darstellt, in Wahrheit war es eine Flucht. Die Soldaten, die meist Rekruten aus den Separatistengebieten sind, sind in Panik geraten", sagt Bundesheer-Analyst Markus Reisner dem STANDARD. Und: "Gerade diese panische Flucht macht die Niederlage der Russen sogar größer als jene in Kiew im Frühling, wo man zumindest noch geordnet abgezogen ist."

Frage: Wie könnte Russland nun reagieren?

Antwort: Putin steckt hier in einem echten Dilemma, glaubt der Innsbrucker Politologe und Russland-Spezialist Gerhard Mangott. Was seiner Armee fehlt, sind Soldaten, um die mehr als 1000 Kilometer lange Front abzusichern. Die Soldaten, die heute dort kämpfen, sind zu großer Zahl jene, die Ende Februar einmarschiert sind – neben massiven Verlusten wird mangels Rotation zunehmend auch Erschöpfung zu einem entscheidenden Faktor am Feld. Der nahende Winter spielt der zusehends schlechter ausgerüsteten Truppe nicht eben in die Hände. Ein Rezept dagegen ist eine Generalmobilmachung, vor der Putin bisher aber zurückschreckt. Einerseits deshalb, weil man dann nicht mehr umhinkäme, den Kampf in der Ukraine als das zu bezeichnen, was er ist: einen Krieg. "Putin gerät jetzt in liberaleren Kreisen unter Druck, weil eine Generalmobilmachung den Krieg nach Moskau tragen würde und hunderttausende Väter, Söhne und Enkel an die Front geschickt würden, die bisher gar nicht so viel vom Krieg in der Ukraine mitbekommen haben."

Die nationalistische Rechte hingegen tritt vehement für eine Generalmobilmachung ein und wirft dem Kreml vor, zu zögerlich gegen das vermeintliche Brudervolk vorzugehen.

Und: Putins Kartenhaus vom Krieg, der keiner ist, würde zusammenfallen, wenn auch Moskauer Eltern Gefallene bestatten müssten. "Wenn er aber nicht mobilisiert, sind weitere Gegenoffensiven der Ukrainer möglich", sagt Mangott. Kurzfristig bleibt der russischen Armee aber noch die Option des "totalen Krieges", wie es Bundesheer-Experte Reisner grimmig formuliert. Denn an Marschflugkörpern, so viel steht fest, fehlt es der russischen Armee noch lange nicht. "Hier zeigt sich die Schwäche der Ukraine. Wegen der so gut wie nicht vorhandenen Fliegerabwehr hat man der russischen Luftüberlegenheit nichts entgegenzusetzen", sagt Reisner.

Frage: Was bedeutet das?

Antwort: Einen Vorgeschmack lieferten die offenkundigen Vergeltungsschläge gegen zivile Infrastruktur wie E-Werke, Fernwärmeanlagen und Kraftwerke, die in der Nacht auf Montag die halbe Ukraine in einen Blackout getrieben haben. "Solche Luftschläge sind im Moment das Einzige, wozu die russische Armee in der Lage ist", schätzt Reisner die Lage ein. Von einer entscheidenden Wende will er auch deshalb nicht sprechen. Erst im Frühling werde man abschätzen können, ob die Erfolge der ukrainischen Armee nachhaltig waren – oder nicht. "Russland ist auch nach wie vor in der Lage, etwa Kiew mit Bombern anzugreifen. Warum man diese Eskalation bisher scheut, hängt auch mit Propaganda zusammen", glaubt Reisner. Schließlich spielten die Bilder von westlicher Politprominenz, die sich in Kiew die Klinke in die Hand gibt, der russischen Erzählung in die Karten, wonach man sich in einem Krieg mit dem gesamten Westen befindet. Russland-Kenner Mangott rechnet aber auch aus einem anderen Grund nicht mit einer Bombardierung Kiews: "Das würde die Bereitschaft im Westen sicher steigern, der Ukraine noch mehr Waffen zu liefern."

Frage: Wie wird denn in Moskau über die Lage in der Ukraine gesprochen?

Antwort: Bisher macht sich hinter den Kreml-Mauern weiter eisiges Schweigen breit. In den Kreisen der Silowiki, also jenen Klüngels, der sich im Umfeld Putins aus alten KGB-Kadern speist, ortet Politologe Mangott "nach wie vor kein Zeichen des Aufbegehrens gegen Putin". Und: Von einem Eingeständnis der Niederlage in Charkiw fehlt jede Spur. Nach wie vor lautet die offizielle Sprachregelung "Umgruppierung" – statt "Rückzug". Am Sonntag hat das Verteidigungsministerium immerhin die Gebietsverluste eingeräumt, die Russland im Nordosten der Ukraine erlitten hatte. Einzig ein Duma-Abgeordneter der regimetreuen Partei Gerechtes Russland ließ am Sonntag seiner Frustration freien Lauf. Es könne nicht sein, schrieb er auf Twitter, dass in Moskau am 875. Gründungstag der Stadt ein Feuerwerk stattfindet, während in der Ukraine Soldaten an der Front stehen. Am Montag riefen gar 18 Bezirksabgeordnete aus Moskau und Sankt Petersburg den militärisch düpierten Putin öffentlich zum Rücktritt auf.

Frage: Hat sich nun ein Fenster für Verhandlungen geöffnet?

Antwort: Ganz und gar nicht. Russlands Außenminister Sergej Lawrow bot Kiew am Sonntag zwar Gespräche an. Allerdings fügte er an, zu den altbekannten Bedingungen: kein Nato-Beitritt, Gebietsabtretungen, "Entnazifizierung", Demilitarisierung. Unannehmbare Konditionen für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj also, der die erfolgreiche Gegenoffensive rhetorisch auskostet. Seinerseits will er mit Moskau erst verhandeln, wenn die Ukraine ihr gesamtes Territorium zurückerobert hat – inklusive der von Moskau 2014 annektierten Krim. Versuchte Kiew die Halbinsel zurückzuerobern, würden in Moskau die Rufe nach nuklearer Vergeltung wohl noch lauter. (Florian Niederndorfer, 13.9.2022)