Die russische Staatsführung versucht Normalität zu suggerieren. Erst am Wochenende wurde ein neues Riesenrad in Moskau eröffnet.

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Angesichts von Rekordinflation und anhaltenden Turbulenzen an den Energiemärkten will sie nicht abreißen: die Kritik an den Russland-Sanktionen der EU. Neben der FPÖ, die für eine Volksabstimmung in der Frage wirbt, steht die Sanktionsdebatte auch im Zentrum des Bundespräsidentschaftswahlkampfs. Von den sechs Kandidaten, die am Sonntag bei "Im Zentrum" des ORF diskutierten, sprachen sich immerhin fünf für ein Ende der EU-Maßnahmen aus. Nur Dominik Wlazny war für deren Beibehaltung. Tassilo Wallentin argumentierte etwas differenzierter dagegen als die übrigen Kandidaten.

Auch aus der ÖVP kamen kritische Stimmen: Zwar wurde kein Ende der Maßnahmen, aber immerhin eine Evaluierung gefordert, etwa von Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer.

Als Folge der Debatte rückt nun die Regierung aus, um die Sanktionen zu verteidigen. Außenminister Alexander Schallenberg und Wirtschaftsminister Martin Kocher (beide ÖVP) luden Journalisten ein, um zu begründen, warum sie die EU-Maßnahmen für richtig und wirksam halten. Dabei war das Gesagte plausibel – und doch offenbarte das Gespräch zugleich, dass die EU-Regierungen sich schwertun mit ihrer Argumentation, wonach die Sanktionen Russland mehr schaden als Europa.

Schallenberg skizzierte zunächst, dass er trotz jüngster Erfolge der ukrainischen Armee mit einem längeren "Abnützungskrieg" rechnet. "Dieser Konflikt wird nicht bald vorbei sein", so der Außenminister. Die EU brauche nun "Nervenstärke und strategische Geduld. Die Zeichen stehen zu unseren Gunsten."

Nerven bewahren

Nervenstärke und Geduld: Das bedeutet natürlich, dass auch die Folge des Wirtschaftskriegs zwischen der EU und Russland noch lange spürbar sein werden. Als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Überfall der russischen Armee auf die Ukraine Ende Februar hat die EU inzwischen sechs Sanktionspakete erlassen.

Der Konflikt mit Russland wird noch lange dauern, sagt Außenminister Schallenberg.
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So wurde die Ausfuhr von Technologiegütern nach Russland verboten, darunter insbesondere Flugzeugteile von Airbus. Ein Großteil der russischen Banken wurde aus dem internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen. Das Vermögen der russischen Zentralbank im Ausland wurde eingefroren. Ab Anfang Dezember wird ein Embargo für Öl aus Russland gelten, wobei Pipeline-Öl für einige Mitgliedsländer wie Ungarn von der Maßnahme ausgenommen wird.

In der Folge hat Russland seinerseits die Gaslieferungen in die EU weiter gedrosselt, bereits 2021 war es zu Lieferrückgängen gekommen.

Putins Wirtschaftslenker bremsen Absturz

Wirtschaftsminister Kocher hielt fest, dass die Sanktionen seiner Ansicht nach wirken: Abzulesen sei das schon daran, dass die russische Wirtschaft heuer in eine Rezession stürze, während die EU-Volkswirtschaften weiter wachsen werden. 1.100 multinationale Unternehmen haben Russland seit Kriegsbeginn verlassen, zitierte Kocher eine Studie von Forschern der Universität Yale. Ein solcher Exodus bedeute einen gewaltigen Verlust an Know-how und Technologie für Russlands Wirtschaft.

Die Probleme, die es im Gegenzug aktuell in Europa gebe, Stichwort Inflation, seien nicht nur eine Folge der Sanktionen. Schon im Jänner, also vor dem Überfall auf die Ukraine, lag die Inflationsrate in Österreich bei fünf Prozent.

Freilich gibt es da auch die Kehrseite.

Der russische Druck beim Gas sorgt für Preissprünge auf den europäischen Energiemärkten. Zugleich hat sich Russlands Wirtschaft vom ersten Schock erholt: Nachdem zunächst ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um zwölf Prozent und mehr erwartet wurde, dürfte der Rückgang des BIP nun doch moderater ausfallen. Das Forschungsinstitut WIIW in Wien geht von sieben Prozent aus, und sogar das dürfte noch nach unten korrigiert werden.

Der Exodus aus Russland trifft die Wirtschaft des Landes stark, sagt Wirtschaftsminister Martin Kocher.
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Die Wirtschaftslenker Wladimir Putins haben den freien Fall des Rubel gestoppt, dank sprudelnder Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen erwartet Russland heuer Rekordeinnahmen. Demnach sollen Russlands Erlöse aus Gas- und Ölverkäufen heuer auf fast 340 Milliarden US-Dollar steigen (331 Milliarden Euro). Das entspricht einem Einnahmenplus von gut 40 Prozent. In Russland selbst versucht die Staatsführung den Bürgern möglichst Normalität vorzugaukeln: Erst am Wochenende wurde von Staatschef Putin ein neues Riesenrad in Moskau eröffnet.

Wer vertraut noch Putin?

Zeigt das also, dass die Sanktionen nicht wirken oder falsch konzipiert sind?

Schallenberg wie Kocher widersprachen. Den russischen Angriffskrieg unbeantwortet zu lassen sei keine Option gewesen.

Beide argumentierten weiters, dass Russland unter Putin kein vertrauenswürdiger Partner mehr sei. Sprich: "Es ist ein Irrglaube, dass bei einem Ende der EU-Sanktionen Strom billiger wird und Gas in Strömen kommt", so Schallenberg. Putin habe bewiesen, dass er sich an Gaslieferverträge nicht gebunden fühle. Er werde Gas weiter nutzen, um Druck auf die EU auszuüben. "Niemand kann glauben, dass wir vertrauensvoll mit Russland weiterhandeln können", sagte Kocher.

Dieses Argument hat schon etwas für sich. Klar ist, dass Russland nicht nur die Sanktionen stören, sondern das Land auch keine Waffenlieferungen der Europäer an die Ukraine mehr haben will.

Kocher argumentierte auch, dass sich die Europäer von Putin nicht ins Bockshorn jagen lassen sollen. Für diesen Winter halte er einen Gasnotstand angesichts der hohen Füllstände der Speicher in Österreich von 70 Prozent für unwahrscheinlich. Es sei gut möglich, dass Putin das Gas für einige Tage oder länger abdrehe. Einen vollkommenen Stopp der Lieferungen halte er aber für unwahrscheinlich, damit würde Putin selbst auf für ihn wichtige Einnahmen verzichten.

Allerdings zeigte das Gespräch auch, dass es in der Sanktionsdebatte auch bei den Befürwortern der Maßnahmen Lücken gibt.

Eine Evaluierung der Sanktionen, etwa durchgeführt von den großen Forschungsinstituten in der EU und beauftragt durch den Rat der EU, findet nicht statt.

Fehlende Evaluierung

Oberösterreichs Landeshauptmann Stelzer hat hier also einen wunden Punkt getroffen: Die EU-Außenminister diskutieren die bisher gegen Russland beschlossenen Maßnahmen regelmäßig, Experten bringen sich natürlich ein. Aber das ist kein öffentlicher Prozess mit klar nachvollziehbaren Parametern. Die Argumentation "Die Sanktionen wirken" steht damit auf wissenschaftlich schwachen Beinen.

Etwas vage blieb auch die Verteidigung der Maßnahmen im Energiesektor: Eine Frage wäre ja, ob es nicht Sinn machen würde zu versuchen, den Energiesektor aus der Sanktionsspirale auszunehmen, also russisches Öl nicht zu boykottieren, dafür aber auch mehr Gas zu bekommen.

Die G7-Länder versuchen gerade die Sanktionsstrategie neu auszurichten. So soll es westlichen Unternehmen nicht verboten sein, russisches Öl mit Schiffen zu transportieren und solche Fracht zu versichern. Wohl aber sollen sie das nur dürfen, wenn russisches Öl mit einem hohen Abschlag gehandelt wird – ein Eingeständnis dessen, dass Sanktionen gegen Öl aus Russland wenig bringen, wenn sie Öl insgesamt nur verteuern und so Moskau letztlich Mehreinnahmen bringen.

Kocher argumentierte, dass Energieexporte ein so zentraler Bestandteil der russischen Exporte seien, dass es keinen Sinn mache, sie ganz auszunehmen. Das solle aber eben nur für Öl, nicht für Gas gelten. Schallenberg betonte, dass auch für Kritik an den Sanktionen Platz sein müsse: Dass in der EU diese Debatte offen geführt werden könne, sei unser Vorteil gegenüber Russland. (András Szigetvari, 14.9.2022)