Im Gastblog schreibt Ulrich Wanderer über ein Fallbeispiel der Mediation im Kontext einer Hausgemeinschaft.

Gerade im Bereich der Nachbarschaftsmediation wird man als Mediator oder Mediatorin gelegentlich in die höchstpersönlichen Lebensbereiche der Menschen eingebunden. Oftmals hat man es dabei nicht mit sterilen Rechtsfragen zu tun, sondern taucht tief in die Lebenswirklichkeiten der Medianden ein, welche zum Teil aus Blut, Schweiß und Tränen, aber auch anderen Aspekten bestehen.

Auch im Kontext der Nachbarschaft ist manchmal eine Mediation gefragt, um Spannungen zu entschärfen.
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Der folgende Fall (teilweise entfremdet aus Gründen der Verschwiegenheit) führte die beteiligten Parteien von den Nachbarn und Nachbarinnen über die Hausverwaltung bis zu den Mediatoren durch eine Vielzahl von Emotionen und Verantwortlichkeiten und zeigt so auch die heiklen Aspekte der Arbeit auf.

Anspannung im Mehrfamilienhaus

Die Hausverwaltung einer Miteigentumsanlage verständigte zwei Mediatoren mit dem Auftrag, sich bei den Parteien A und B zu melden. B war in den letzten Wochen öfter bei der Hausverwaltung vorstellig geworden und hatte sich über A beschwert, wobei die Vorwürfe vielerlei Aspekte berührten. Ausgehend von einer über Jahre durchaus positiv erlebten Nachbarschaft mit A, einer alleinstehenden Dame im gehobenen Alter, hatte sich die Chemie mit den Nachbarn scheinbar über Nacht verschlechtert. A grüßte nicht mehr zurück, wollte auch nicht mehr mit den Bs gemeinsam im Aufzug in den fünften Stock fahren und vermied den bisherigen nachbarschaftlichen Kontakt. Gleichzeitig meldeten auch die benachbarten C, eine neu zugezogene Familie, die jedoch nichts mit dem Konflikt zu tun haben wollte, dass insbesondere seit den Sommermonaten Ungezieferbefall den Stock heimgesucht hatte, und führten dies auf die Wohnung der A zurück.

Vermitteln zwischen Positionen

Die ersten Telefonate verliefen ausgesprochen höflich, sowohl die beschwerdeführende B als insbesondere auch Frau A zeigten sich hocherfreut über die Kontaktaufnahme der Mediatoren und schütteten ihnen ihr Herz aus. Der offenkundige Leidensdruck schien auf beiden Seiten ein sehr hohes Maß erreicht zu haben. A schien aufgrund altersbedingter Probleme nur mehr selten aus dem Haus zu kommen, zeigte sich dankbar für das Interesse der Mediatoren an ihrem Schicksal.

Familie B wiederum malte im Gespräch mit den Mediatoren ein anderes Bild der Nachbarin. Sie sei zwar bemüht, die großbürgerliche Fassade einer "Dame der Gesellschaft" zu erhalten, aber offenkundig nicht mehr in der Lage, den Haushalt allein zu bewältigen, was in weiterer Folge zu einer Verwahrlosung der Eigentumswohnung geführt hatte. "Schauen Sie, das ist ja grundsätzlich nicht unsere Wohnung, es ist nicht unsere Sache, aber wir machen uns einfach auch ein wenig Sorgen um die Dame", vertrauten sich die B den Mediatoren an. "Natürlich aber haben wir schon auch ein Problem mit dem Ungeziefer, das da bei der Eingangstür herumkriecht. Wir haben ja ein kleines Kind, Sie werden verstehen, dass wir da auch Grenzen haben."

Die Herausforderung für die Mediatoren, die in diesem Fall erst einmal auf die Möglichkeiten der Shuttlemediation zurückgriffen, bestand darin, dass sie A nicht vor den Kopf stoßen wollten, nachdem dies wohl auch den Weg zu einer gemeinsamen Lösung verbaut hätte. Bei einer solchen Shuttlemediation wird das sogenannte Präsenzprinzip gebrochen, indem die Mediatoren und Mediatorinnen den Dialog mit den Parteien getrennt durchführen und die mit der in einem Raum befindlichen Partei erarbeitete Botschaft der Partei im anderen Raum überbringen. Das geschieht wechselseitig.

Frage nach Unterstützung

Somit musste gewartet werden, bis A die seitens der anderen Nachbarn immer wieder thematisierte desaströse Situation hinter der Wohnungstür von selber andeutete, was nicht sehr lange auf sich warten ließ. Mit den Worten "Schauen Sie, ich kann mich ja kaum mehr wirklich gut rühren, ich kann nicht immer alles aufheben, was mir runterfällt" deutete A die Situation an. Sie kam auch kurz auf ihre Tochter zu sprechen, die mehr oder weniger die naheliegendste Ansprechperson für allfällige Haushaltsunterstützung gewesen wäre, doch schien es in der Mutter-Kind-Beziehung Probleme zu geben, weswegen A ihre Tochter nicht in die Wohnung lassen wollte.

Dennoch meldete sich die Tochter nach einigen Tagen bei den Mediatoren und dankte ihnen für die Unterstützung. Sie war sich des Problems hinsichtlich der Wohnung sehr bewusst, sah sich jedoch außerstande zu helfen, zumal sie den Weg zum Pflegschaftsgericht unter allen Umständen vermeiden wollte. Dennoch gab sie einen entscheidenden Tipp, als sie von der immer und immer wieder geäußerten Hoffnung der Mutter erzählte, "Heinzelmännchen" sollten die Wohnung aufräumen, während sie auf Kur oder Urlaub wäre.

Bei aller Absurdität dieser Vorstellung hatten nun die Mediatoren aber ein Bild, einen Ansatzpunkt für ihre weitere Arbeit in diesem Fall. Wissend um den grundsätzlichen Wunsch der A um Unterstützung bei der Hausarbeit, konnten nun die Gespräche mit ihr entsprechend geführt werden.

Ein unerfreulicher Zufall beschleunigte das Geschehen: Als die Mieter unter As Wohnung einen kleinen Wasserschaden meldeten, musste die Hausverwaltung eine Wohnungsbegehung bei A vornehmen, wodurch das Ausmaß der Verwahrlosung der Wohnung zum Vorschein kam. Während die Nachbarn und Nachbarinnen weiterhin guten Willen zeigten, gemeinsam mit A zu einer Lösung zu kommen, sah sich die Hausverwaltung nun in gewisser Weise unter Zugzwang, zumindest den entstandenen Schaden zu reparieren. Nun war auch A klar, dass sie Unterstützung in Anspruch nehmen sollte. Es stellte sich heraus, dass Herr B gute Kontakte zum Psychosozialen Dienst der Stadt Wien hat und so auch über den Fonds Soziales Wien (FSW) Unterstützung organisieren konnte.

Lösung durch "Heinzelmännchen"

Das Auseinanderdriften des Selbstbilds der A und der Außenwahrnehmung durch die Nachbarn und Nachbarinnen wurde in weiterer Folge offensichtlich, doch gelang es den psychologisch geschulten Mediatoren, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, in der A die Annahme der Unterstützung seitens der Stadt Wien, aber auch eines privaten Angebots, welches sich auf die sorgsame Unterstützung von Menschen, die am Messie-Syndrom leiden, richtete, anzunehmen. In gewisser Regelmäßigkeit konnte so zumindest die Akutsituation entspannt werden, sodass die Nachbarn und Nachbarinnen nicht mehr unter der Situation zu leiden hatten. Frau A hatte sich inzwischen mit den Angestellten des FSW richtiggehend angefreundet und bezeichnete diese scherzhaft immer wieder als ihre "Heinzelmännchen".

Dauerhafte Verbesserung als Mediationsziel

Fälle wie dieser kommen in der Praxis der Nachbarschaftsmediation zwar nicht regelmäßig, aber dennoch mit erstaunlicher Häufigkeit vor. Es ist dabei von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, auch eine gewisse psychologische oder auch sozialarbeiterische Perspektive in die Arbeit einzubringen. Aus diesem Grund wurden im der Schilderung zugrunde liegenden Fall auch zwei Mediatoren von der Hausverwaltung bestellt, einer davon war der regelmäßig beauftragte Konfliktmanager der Hausverwaltung (Ihr Autor), der andere wurde aufgrund der Besonderheiten des Falles extra beigezogen und hatte eine psychologische Grundausbildung. In abwechselnden Gesprächen war es möglich, den Parteien zu ermöglichen, ohne jedweden Gesichtsverlust vor der jeweils anderen Seite offen über die höchstpersönlichen Anliegen zu sprechen.

Ein wichtiger Stehsatz der Mediationsausbildung lautet: "Die Medianden sind die Experten ihres Konflikts, Mediatoren und Mediatorinnen sind nur für den Prozess verantwortlich, nicht für den Inhalt." Doch gerade jener Fall, der diesem Blogbeitrag in Grundzügen als Ausgangsbasis diente, ließ die Verantwortung der Mediation für das Gelingen einer Hausgemeinschaft – und darüber hinaus auch zur Unterstützung der älteren Dame – erkennen. Feingefühl und auch die nötige Vernetzung brachten einen Erfolg, welcher auch ein halbes Jahr nach Beendigung der Mediation noch anhielt. (Ulrich Wanderer, 14.9.2022)