Solche Tabubrüche sind für das demokratische Gefüge des Landes brandgefährlich, sagt Jurist Oliver Scheiber im Gastkommentar.

Der Konflikt der ÖVP mit der Justiz dauert bereits zwei Kanzlerschaften an: die von Karl Nehammer und seinem Vorgänger Sebastian Kurz.
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Das Bundeskanzleramt hat kürzlich Grundsätze unseres Rechtslebens verletzt und damit einen Tabubruch gesetzt, der an die Fundamente des Rechtsstaats geht. Die Vorgeschichte, laut Medienberichten: Im Zuge von Korruptionsermittlungen hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft eine Sicherstellungsanordnung ausgestellt und die Polizei beauftragt, Mails und Dokumente von Servern des Bundeskanzleramts sowie Laufwerke und Backups vieler Mitarbeiter des Kanzleramts sicherzustellen. Laut Medien sollen im Bundeskanzleramt just zum Start von Ermittlungen in großem Stil Datenlöschungen durchgeführt worden sein. Nun versucht die Staatsanwaltschaft, gelöschte Daten zurückzuerhalten.

Klare Verfahrensordnungen

Ein solches Vorgehen der Staatsanwaltschaft ist Normalität in einem Strafverfahren; gegenüber einer sofortigen Hausdurchsuchung ist es eine gelindere Maßnahme. Zugleich ist es eine vom Gesetz vorgesehene staatliche Zwangsmaßnahme – die Polizei setzt sie durch. Wenn die Polizei an unsere Haustür klopft, dann müssen wir uns der Anordnung selbstverständlich beugen. Man kann sie im Rechtsweg bekämpfen.

Der Rechtsstaat zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es detaillierte Verfahrensordnungen gibt. Das Gesetz sagt, was Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen, und es sagt auch, wie sich Bürgerinnen und Bürger gegen deren Handlungen und Beschlüsse wehren können. Verdächtige und Beschuldigte haben umfassende Rechtsmittel zur Verfügung.

Rechte und Pflichten

Ein weiterer zentraler Grundsatz des Rechtsstaats ist die Gleichheit vor dem Gesetz. Alle Bürgerinnen und Bürger sind gleich zu behandeln, und sie haben alle dieselben Rechte und Pflichten im Verfahren.

Das Strafverfahren ist weiter dadurch gekennzeichnet, dass der Staat seine Zwangsgewalt einsetzt. Im Strafverfahren geht es um die schwersten Verletzungen der Gesellschaftsordnung, deshalb können Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte unter genau geregelten Voraussetzungen Hausdurchsuchungen durchführen, Telefone abhören oder Verdächtige in Untersuchungshaft nehmen.

Gerichte prüfen das staatliche Handeln und stellen fest, ob es gesetzeskonform war oder die Strafprozessordnung verletzt hat. Manchmal kommt diese Feststellung für den Betroffenen (zu) spät, etwa wenn eine Untersuchungshaft nachträglich als rechtswidrig festgestellt wird. Gerichte entscheiden in solchen Fällen binnen weniger Tage, trotzdem sind solche Fehler für die Betroffenen schmerzhaft – es gibt aber kein Land, das eine bessere Lösung als die rasche gerichtliche Nachkontrolle gefunden hätte.

"Kein Bürger und keine Bürgerin kann mit Polizei und Staatsanwaltschaft über eine Anordnung, Festnahme oder Beschlagnahme verhandeln, wenn diese einmal ausgesprochen ist."

Das Bundeskanzleramt leistete im vorliegenden Fall der Anordnung der Staatsanwaltschaft offenbar keine Folge. Man lud stattdessen ausgewählte Journalisten zu einem Hintergrundgespräch, meldete Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung an und ließ dazu zwei Rechtsexperten und den Leiter der Finanzprokuratur sprechen. Die Finanzprokuratur ist die Anwaltskanzlei der Republik und an sich der Justiz im selben Maß verpflichtet wie dem Kanzleramt; sie wurde ebenso instrumentalisiert wie die Wissenschaft.

Es geht hier nicht um die Qualität der Arbeit der Staatsanwaltschaft, die im Allgemeinen ein hohes Niveau hat, internationale Evaluierungen zeigen es, und auch nicht um den Inhalt der konkreten Anordnung. Es geht darum, dass das Kanzleramt die vorgesehenen Rechtsmittel ergreifen muss und nicht zur Selbsthilfe greifen kann. Kein Bürger und keine Bürgerin kann mit Polizei und Staatsanwaltschaft über eine Anordnung, Festnahme oder Beschlagnahme verhandeln, wenn diese einmal ausgesprochen ist. Mit der Behauptung eines schweren Fehlers könnte jeder die von der Gesundheitsbehörde verhängte Quarantäne brechen, sich einer Festnahme widersetzen, ein Haltesignal der Polizei bei einer Verkehrskontrolle missachten.

Schwerer Schaden

Mit seinem Vorgehen stellt sich das Kanzleramt über das Gesetz und über andere Bürgerinnen und Bürger und fügt dem Vertrauen in die Justiz schweren Schaden zu. Das Vorgehen setzt die Angriffe von Regierungsmitgliedern gegen Parlament und Justiz fort. Es knüpft an das Vorgehen des Finanzministeriums an, das letztes Jahr dem Parlament Unterlagen auch nach einer Anordnung des Verfassungsgerichtshofs verweigerte, und erinnert an den Versuch der Regierung im Jahr 2021, Hausdurchsuchungen in Korruptionsverfahren gegen Politik und Verwaltung abzuschaffen. Ein absurder Plan, der, nachdem er am Widerstand der wachsamen Zivilgesellschaft gescheitert ist, sich nun in der faktischen Weigerung der Herausgabe von Unterlagen fortsetzt.

Dass das Bundeskanzleramt eine führende Rolle in der Beschädigung von Justiz und Institutionen übernimmt und dass das keinen größeren Aufschrei verursacht, wäre vor kurzem noch undenkbar gewesen. Doch die Wirkung solcher Tabubrüche ist klar: Wenn sich eine Regierung wiederholt Justizanordnungen widersetzt, dann wird das irgendwann Normalität. Für Regierungsmitglieder genauso wie für Bürgerinnen und Bürger. An einem bestimmten Tag nach der x-ten Wiederholung ist der Kipppunkt für Demokratie und Rechtsstaat überschritten. Die USA waren da bereits ganz knapp dran. Die jüngsten Vorgänge bestätigen alle, die Österreich seit der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz auf einem ähnlichen autoritären Weg sehen. (Oliver Scheiber, 14.9.2022)