Islandmuscheln können bis zu 500 Jahre alt werden. Das macht ihre Schalen zu Klimaarchiven für die Forschung.
Foto: Paul Kay

Informationen über vergangene Klimaveränderungen sind für die Wissenschaft von enormer Bedeutung, um die aktuellen Entwicklungen einzuschätzen. Oft sind es Ablagerungen, die Aufschluss über die Vergangenheit geben – etwa in Gletschereis, in Form uralter Luftblasen oder gefrorener Pollen.

Doch in seltenen Fällen findet man sehr langlebige Lebewesen, die als Zeugen vergangener Klimaveränderungen dienen können. Verwandte der Venusmuscheln, die in unseren Breiten vor allem in der mediterranen Küche als Zutat zu Nudelgerichten bekannt sind, können über hundert Jahre alt werden. Für die Islandmuschel (Arctica islandica) liegt der Rekord sogar bei über 500 Jahren.

Ihre Schalen wachsen sehr langsam und bilden Ringe, ähnlich den Jahresringen von Bäumen, in denen sie Informationen speichern. Damit bieten sie für die Klimaforschung ein Archiv von unschätzbarem Wert. Eine Studie, die im Fachjournal "Nature Communications" erschien, nutzte nun die Schalen von Islandmuscheln, um mehr über die sogenannte kleine Eiszeit zu erfahren, eine Kälteperiode, die ab dem frühen 15. Jahrhundert vor allem Teile der Nordhalbkugel betraf, mehrere hundert Jahre dauerte und um etwa 1850 endete.

Alterslose Tiere im Nordmeer

Islandmuscheln gehören zu den Tieren, die über eine Eigenschaft namens "vernachlässigbare Seneszenz" verfügen. Sie hören ab einem gewissen Zeitpunkt auf, körperlich zu altern, und kommen damit der Idee von Unsterblichkeit sehr nahe, was sie besonders für die Klimaforschung prädestiniert.

Vor allem in kalten Meeren lebende Tiere mit durch die Kälte verlangsamtem Stoffwechsel gehören zu dieser Gruppe, etwa der Grönlandwal oder der Grönlandhai. Letzterer kann ebenfalls 500 Jahre alt werden, wenn er nicht als isländische Delikatesse auf dem Teller von Menschen landet, die sich mehr für Kulinarik als für außergewöhnliche biologische Langlebigkeitsphänomene interessieren.

Islandmuscheln sind also langlebig genug, um wertvolle Daten über die Kleine Eiszeit zu liefern. Ursprünglich nahm die Klimaforschung an, dass allein Rückkopplungseffekte zwischen Eis und Meer sowie ein daraus folgender verringerter Rückstrom warmen Wassers aus dem Süden die Veränderungen auslösten.

Verringerte Fähigkeit zur Anpassung

Nun hat eine Forschungsgruppe der Universität Exeter anhand der Schalen von Islandmuscheln herausgefunden, dass der nördliche Atlantik kurz vor Beginn der Kleinen Eiszeit seine Fähigkeit verloren hatte, sich auf äußere Störungen einzustellen. Dazu untersuchte man Muschelschalen auf Sauerstoff- und Kohlenstoffisotope sowie auf das Schalenwachstum, die allesamt als Maß für Umweltveränderungen dienen. Dabei zeigte sich, dass die Veränderung unmittelbar vor der Kleinen Eiszeit geschah.

Die Ausläufer der Kleinen Eiszeit beeinflussten auch die Kunst. Pieter Brueghels Bild "Jäger im Schnee" aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien zeigt einen typischen Winter im 16. Jahrhundert.
Foto: KHM-Museumsverband,bruegel

Konkret geht es um zwei Systeme von Meeresströmungen, die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation, zu der auch der Golfstrom gehört, und den Subpolaren Wirbel. Beide dürften durch abgebrochenes Eis, das in diese Zonen trieb, geschwächt worden sein, wodurch warmes Wasser zurückgehalten wurde und das Eis wuchs – neben Vulkanismus, geringerer Sonnenaktivität und einer Ausbreitung von Wäldern auf ehemalige landwirtschaftliche Flächen einer der aktuell diskutierten Gründe, die für die Kleine Eiszeit verantwortlich sein könnten. Was die Strömungen angeht, zeigte sich allerdings bisher in Modellen, dass diese eine gewisse Stabilität aufweisen und sich eigentlich gegen ein Kippen in eine völlig neue Richtung wehren können. Es muss also einen zusätzlichen Effekt gegeben haben.

Dass aktuell eine Destabilisierung dieser Strömungen stattfindet, war bereits bekannt. Eine ähnliche Destabilisierung konnte in der neuen Studie nun auch für die Zeit vor der Kleinen Eiszeit nachgewiesen werden.

Dabei könnte es sich um einen allgemeinen Effekt handeln, betonen die Forschenden. "Ein Weg, um zu sagen, dass sich ein System einem plötzlichen Übergang nähert, besteht darin, dass es zu langsam wird, um auf Störungen von außen zu reagieren", sagt die Erstautorin der Studie, Beatriz Arellano-Nava vom Global Systems Institute der Universität Exeter. Wenn ein System die Fähigkeit verliere, in seinen Durchschnittszustand zurückzukehren, könne es stattdessen in einen neuen Zustand "kippen".

Die neue Studie, die mit Geldern des Horizon-2020-Programms der EU finanziert wurde, warnt davor, dass sich der Effekt aktuell wiederholen könnte. Zuletzt mehrten sich Hinweise darauf, dass sich das nordatlantische System auch im letzten Jahrhundert destabilisiert hat.

"Unsere jüngste Analyse deutet darauf hin, dass das System der Meeresströmungen im nördlichen Nordatlantik aufgrund der globalen Erwärmung wieder von einem Wendepunkt bedroht sein könnte, der womöglich erneut zu einem abrupten Klimawandel in Europa führt", resümiert Tim Lenton, der Direktor des Global Systems Institute. (Reinhard Kleindl, 15.9.2022)