Ursula von der Leyen im solidarischen blau-gelben Gewand.

Foto: AP / Jean-Francois Badias

Die ukrainische First Lady Olena Selenska war in Straßburg bei Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und der Kommissionspräsidentin zu Gast. Noch am Mittwoch wollte von der Leyen erneut nach Kiew reisen.

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In blau-gelbem Gewand und mit Olena Selenska an ihrer Seite sprach Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union im Parlament in Straßburg am Mittwochvormittag sogleich den Krieg in der Ukraine an: Die Kommissionspräsidentin lobte das gemeinsame Auftreten der EU-Staaten angesichts des russischen Angriffs und warnte vor Kräften, die jede Spaltung der Union ausnutzen wollen. Es sei eine Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, am Ende werde aber Russlands Präsident Wladimir Putin scheitern: "Es steht viel auf dem Spiel."

Die von der EU erlassenen Sanktionen seien die schärfsten, die es jemals gegeben habe. "Russlands Industrie liegt in Trümmern", sagte von der Leyen. So sei die russische Rüstungsindustrie bereits darauf angewiesen, Halbleiter aus Geschirrspülern auszubauen, zahlreiche Aeroflot-Flugzeuge müssten auf dem Boden bleiben. Mit einer Aufhebung der Maßnahmen könne Russland auf absehbare Zeit nicht rechnen. "Dies ist der Preis für Putins Spur des Todes und der Vernichtung."

European Commission

Bisher habe die Union der Ukraine 19 Milliarden Euro an Hilfe geleistet – dabei ist militärische Unterstützung nicht eingerechnet.

Reise nach Kiew angekündigt

Man hätte bereits früher auf jene Stimmen hören müssen, die immer vor Putin gewarnt hätten, so von der Leyen. Polen und die baltischen Staaten hätten bereits vor Jahren die russischen Expansionsgelüsten angesprochen.

Von der Leyen will noch am Mittwoch erneut nach Kiew reisen. Es wäre bereits ihre dritte Reise in die Ukraine, seit Russland das Land am 24. Februar angegriffen hat. Im April besuchte sie unter anderem den Kiewer Vorort Butscha, in dem kurz davor Kriegsverbrechen öffentlich geworden waren. Im Juni sprach sie mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmyhal in Kiew über noch offene Punkte des ukrainischen EU-Aufnahmegesuchs. Mittlerweile haben die 27 EU-Staaten der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten erteilt.

Milliarden gegen Preisanstieg

Die Gasspeicher der Union sind laut von der Leyen derzeit zu 84 Prozent gefüllt. Im Vorjahr seien 40 Prozent des in der EU verbrauchten Gases aus Russland gekommen, nun seien es nur noch neun Prozent. Moskau manipuliere aber weiterhin den Energiemarkt – die Kommissionspräsidentin appellierte deshalb erneut an die Mitgliedsstaaten, ihren Energieverbrauch zu reduzieren.

Anschließend übte sie Kritik an Unternehmen, die durch hohe Energiepreise Rekordprofite einfahren. Deshalb will die EU mehr als 140 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um den Preisanstieg zu dämpfen. Die Kommissionspräsidentin will den Strommarkt reformieren, um so abrupte Preisänderungen in den Griff zu bekommen. Das Merit-Order-Prinzip, mit dem derzeit der Strompreis anhand des teuersten Kraftwerks am Netz ermittelt wird, sei nicht mehr zeitgemäß. Wind-, Solar und Atomstrom sollen nicht mehr als 180 Euro pro Megawattstunde kosten.

"Grüner Pakt" für Europa

Drei Milliarden Euro sollen in den Ausbau von Wasserstoff fließen. Von der Leyen sprach von einem "Grünen Pakt für Europa". Herausforderungen wie den Klimawandel könne man nur gemeinsam meistern, als Beispiel nannte sie die Löschflugzeuge, die in ganz Europa bei Waldbränden zum Einsatz kommen. Es sollen zehn zusätzliche Leichtflugzeuge und drei Hubschrauber beschafft werden.

Gegen den Personalmangel, der nach der Corona-Pandemie zahlreiche Branchen plagt, kündigte die Kommissionspräsidentin Investitionen im Bildungsbereich an. Zusätzlich sollen gezielt Fachkräfte aus dem Ausland angeworben, Qualifikationen schneller anerkannt werden.

Neue Partner

Lithium und Seltene Erden, wie sie die Fahrzeug- und Elektronikindustrie benötigt, würden in Zukunft wichtiger sein als Öl und Gas. Derzeit kommt der Großteil (60 bzw. 90 Prozent) aus China. Von der Leyen will neue Partner und deshalb Verhandlungen mit Chile, Mexiko, Neuseeland, Australien und Indien aufnehmen.

An die Westbalkanstaaten, die Ukraine und Georgien gerichtet, erklärte sie: "Die Union ist ohne euch nicht komplett." Gemeinsam mit den USA und den G7-Staaten sollen große Investitionen in Afrika und Lateinamerika getätigt werden.

Helles Licht in der Dunkelheit

Wenn man eine größere Union wolle, müsse man auch eine Reform der Union ernsthaft angehen, sagte von der Leyen. "Light shines brightest in the dark", erklärte sie angesichts des russischen Angriffskriegs: Das Licht scheint am hellsten im Dunklen. Und sie stellte zwei Gäste im Plenum vor: die Polinnen Magdalena und Agnieszka, die sich sofort nach Kriegsausbruch für ukrainische Flüchtlinge eingesetzt und Hilfe organisiert hatten.

Mit den Worten "Long live Europe!" beendete von der Leyen ihre Rede und erhielt dafür Standing Ovations des Plenums, auch von der ukrainischen First Lady Olena Selenska.

Die Rede zur Lage der EU ist an die sogenannte Rede zur Lage der Nation des US-Präsidenten angelehnt. Im Anschluss daran war eine Debatte mit den EU-Abgeordneten geplant. Auf der rechten Seite des Parlament waren bei von der Leyens Rede mehrere Sitze leer geblieben – dabei handelt es sich um Plätze der extremen Rechten, zu der etwa die FPÖ, Marine Le Pens Rassemblement National und die italienische Lega gehören.

Für von der Leyen war es die dritte Rede dieser Art. Die Deutsche ist seit 1. Dezember 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission. (bed, lew, red, 14.9.2022)