Saatgut bildet den Grundstein der Ernährung. Am Markt ist es jedoch nicht gleichmäßig verteilt.

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Immer schärfere Chilis züchten, diesen Trend wollte Michael Theurl nicht mitmachen. Schärfe ist in Ordnung, aber schmecken soll es schließlich auch. Deshalb züchtete der Tiroler Hobbygärtner einfach seinen eigenen Chili, der "Black Heart" heißt. Die Pflanzen tragen rote, runde Früchte mit einer guten Schärfe, perfekt für eine Jause. Die Chilis sind aber etwas ganz Besonderes: Ihr Saatgut ist als Open Source lizenziert und damit gemeinfrei.

Bekannt ist das Prinzip aus der Softwarebranche, und es funktioniert bei Saatgut ähnlich. Jeder kann es frei verwenden, um seinen eigenen "Black Heart"-Chili anzupflanzen oder damit neue Sorten zu züchten. Die entstehenden Sorten sind dann wiederum gemeinfrei. Züchter wie Theurl können ihr Saatgut zwar verkaufen – schließlich kostet die Züchtung Zeit und Geld –, aber von anderen keine Gebühr für die Weiternutzung verlangen. Sie verzichten auf alle geistigen Eigentumsrechte an ihrem Saatgut. So sieht es die Open-Source-Lizenz vor, die Theurl für seine Chilis nutzt.

Gegen die Macht der Konzerne

Entwickelt wurde die Lizenz von Open-Source-Seeds, einer Initiative im hessischen Marburg, die zum Verein Agrecol gehört. Etwa hundert Pflanzensorten hat die Initiative schon lizenziert. Sie stemmt sich damit gegen die großen Agrarkonzerne wie Bayer-Monsanto, Corteva, Chemchina-Syngenta und BASF. Diese Konzerne kontrollieren laut Oxfam weltweit mehr als 60 Prozent des kommerziellen Saatgutmarkts. "Das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung, denn es schafft enorme Abhängigkeiten", kritisiert Johannes Kotschi, Teamleiter bei Open-Source-Seeds, im STANDARD-Gespräch.

Konzerne züchten häufig massentaugliche Hybridsorten wie Mais, Raps und Soja, die sich zwar über Jahrzehnte verkaufen, aber häufig nur einmal gute Ernten bringen. Aus der Ernte können Landwirtinnen und Landwirte keine neue Saat mehr herstellen, weil die Pflanzen nicht mehr fortpflanzungsfähig sind. Für neues Saatgut sind sie daher auf die Konzerne angewiesen. Diese Abhängigkeit ist aber nur eine Seite der Medaille.

Nur vier Konzerne, darunter Bayer, kontrollieren mehr als 60 Prozent des kommerziellen Saatgutmarkts.
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Über Schlupflöcher zu Patenten

Allgemein regelt der europäische Sortenschutz, wie und von wem Saatgut genutzt werden darf. Züchterinnen und Züchter können landwirtschaftliches Saatgut für 25 bis 30 Jahre schützen lassen, sofern es bestimmte Kriterien erfüllt. Wenn jemand ihr Saatgut verwendet oder vermehrt, können sie dafür Lizenzen vergeben. Mit dem sogenannten Züchterprivileg gibt es jedoch eine Ausnahme vom Sortenschutz. Es besagt: Züchter wie Theurl dürfen mit geschützten Sorten weiterzüchten, um neue Sorten zu entwickeln – ohne Zustimmung des jeweiligen Züchters. Laut Experten ist diese Regelung ein sinnvolles Instrument, um weiterhin Innovation bei der Saatgutzüchtung zu gewährleisten.

Doch die Agrarkonzerne schlagen immer öfter einen anderen Rechtsweg ein – und lassen Pflanzensorten patentieren. Nur sie dürfen eine patentierte Sorte dann noch für die Züchtung verwenden oder verkaufen. Züchterinnen und Züchter können dann nicht mit der Sorte arbeiten oder müssen dafür zahlen. Für Landwirte, Züchterinnen und Gärtner ist das ein großes Problem. "Gesamtgesellschaftlich und für kleinere und mittelständische Züchter sind Patente eine Katastrophe", sagt Anton Brandstetter, Geschäftsführer beim Branchenverband Saatgut Austria.

Die Krux: Patente auf Pflanzen und Tiere, die konventionell gezüchtet wurden, als ohne Gentechnik, sind laut EU-Recht eigentlich verboten. Doch Konzerne nutzen rechtliche Schlupflöcher aus, um an Patente zu gelangen. Denn welche Pflanzen als "neue Erfindung" gelten und damit für ein Patent infrage kommen, ist oft Auslegungssache. Laut Schätzungen von Umweltverbänden wurden in den vergangenen 15 Jahren mehr als 200 Patente auf Pflanzen und Tiere vom europäischen Patentamt erteilt.

Vom Acker bis zum Teller

Oft geht der Patentschutz sehr weit und erstreckt sich nicht nur auf den Anbau einer Sorte, sondern auch auf die Lebensmittel, die am Ende auf dem Esstisch stehen. "Damit wird die zunehmende Kontrolle vom Acker bis zum Teller durch die Konzerne angestrebt", sagt Kotschi. Er warnt, dass Patente die biologische und genetische Vielfalt beim Saatgut gefährden. Denn Agrarkonzerne seien auf Hochleistungssorten spezialisiert und setzten bei Saatgut nicht auf Diversität.

Um die großen Zukunftsaufgaben in der Landwirtschaft zu bewältigen – Klimakrise, Ernährungssicherheit, Artensterben –, ist diese Vielfalt laut Fachleuten unverzichtbar. Um sie zu gewährleisten, reiche auch der europäische Sortenschutz langfristig nicht aus, sagt Kotschi. Denn trotz Züchterprivileg erlauben es die geistigen Eigentumsrechte, Lizenzgebühren für das Saatgut zu erheben oder andere von der Nutzung auszuschließen.

In Österreich stammt das Saatgut von mittelständischen Pflanzenzuchtunternehmen, vor allem bei Getreide.
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Österreich bisher unabhängig

In Österreich ist von einer "Kontrolle" des Saatguts durch Großkonzerne bisher nicht zu sprechen. Zwar dominieren bei Kulturpflanzen wie Mais oder Sonnenblumen durchaus Großkonzerne den Markt. Bei vielen Kulturarten wird das Saatgut hierzulande jedoch von privaten, mittelständischen Pflanzenzuchtunternehmen produziert, etwa bei Getreide.

Laut Hermann Bürstmayr, der an der Boku die Abteilung für Pflanzenzüchtung leitet, müsse man trotzdem sichern, dass heimische, mittelständische Züchter am Markt auch in Zukunft eine Chance haben. Das sei die beste Garantie für regional angepasste Sorten und eine Sortenvielfalt für die heimische Landwirtschaft. "Wir müssen sehr darauf achten, nicht in eine Situation zu geraten wie etwa bei Computerbetriebssystemen, Onlinediensten oder Mobiltelefonen, bei denen die Marktmacht weniger Unternehmen enorm groß geworden ist", sagt Bürstmayr.

Wenig Anreize für Züchterinnen und Züchter

Die Vision von Kotschi und seinem Team bei Open-Source-Seeds ist es, einen gemeinfreien Saatgutsektor aufzubauen. Frei von Patenten und Sortenschutz. Uneingeschränkt zugänglich für jeden. Die Frage ist laut Branchenexperten jedoch, ob diese Vision wünschenswert ist. Denn Pflanzenzüchtung koste schließlich Geld. Neben dem Verkauf von Saatgut verdienen Züchterinnen und Züchter an den Lizenzeinnahmen aus dem Sortenschutz. "Sorten fallen nicht vom Himmel. Es muss erst einmal investiert werden, um neue und besser angepasste Sorten zu züchten", sagt Boku-Experte Bürstmayr.

Aufgrund fehlender finanzieller Anreize halten sich Züchter daher noch zurück, ihr Saatgut gemeinfrei anzubieten. Verbandsgeschäftsführer Brandstetter bezweifelt, dass die Open-Source-Idee mehrheitsfähig ist. Nicht jeder sei bereit, eine Lizenz herzugeben. Aus seiner Sicht ist das Saatgut durch das Züchterprivileg im Sortenschutz in gewisser Form schon Open-Source-Saatgut, da es immer wieder verwendet werden kann. "Aber wenn es Gruppen gibt, die es finanzieren können, nach dem Open-Source-Prinzip Saatgut zur Verfügung zu stellen, spricht nichts gegen die Idee", sagt Brandstetter.

Ähnlich zum Biosiegel könnte es ein Gemeingut-Label geben, sagt Kotschi.
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Eigenes Gemeingut-Label

Open-Source-Seeds erarbeitet schon Vorschläge, wie sich das Gemeingut-Saatgut finanzieren lassen könnte. Vorstellbar wäre laut Kotschi etwa, bestehende Ökolabel mit einem Gemeingutlabel zu verschmelzen. So könnte man signalisieren, dass ein Produkt aus Gemeingut-basierter Pflanzenzüchtung stammt. Ein Prozentsatz von den Einnahmen dieser Produkte könnte in einen Fonds fließen, der der freien Pflanzenzüchtung zugutekommt. Bis es so weit ist, wird das gemeinfreie Saatgut aber wohl eine Nische bleiben.

Michael Theurl hält Open-Source-Saatgut jedenfalls für eine gute Alternative. "Durch die Lizenz bleibt es uneingeschränkt möglich, neue und widerstandsfähigere Pflanzen zu entwickeln und dadurch die Diversität zu fördern", sagt Theurl. Als Hobbyzüchter ist er nicht darauf angewiesen, mit seinem Chili-Saatgut Geld zu verdienen. Das Züchten macht ihm einfach Spaß. Verschiedene Sorten zu einer neuen zu kombinieren fasziniert ihn. Nie sei vorhersehbar, wie sich eine Kreuzung entwickle. Das macht die Züchtung für ihn spannend. "Jedes Jahr aufs Neue kann ich kaum erwarten, wie sich aus dem Saatgut ein neues Pflänzchen entwickelt", sagt Theurl. (Florian Koch, 17.9.22)