Alexander Keppel schreibt im Gastblog über die Brutalität in der neuen Sensibilität.

Ich hätte es bis jetzt nicht für möglich gehalten, dass ich einmal eine Lanze für Dreadlockmenschen brechen würde. Als jemand, der musikalisch eher über Post-Punk und Wave und später Techno und House sozialisiert wurde, waren Filzhaarträger und ihr Sound im Bermudadreieck zwischen Reggae, Nu-Metal und Weltmusik der natürliche Feind. Doch vor dem Hintergrund einer übergriffigen Korrektheit sind geschmäcklerische Grabenkämpfe auf dem Distinktionsfeld erodierter Jugendkulturen heute getrost zu vernachlässigen.

Dreadlocks – von der Hommage zum Corpus Delicti.
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Innerhalb der letzten zwei Monate traf es gleich zwei Acts, denen ihre Dreads zum Verhängnis wurden, da sie aus Sicht mancher die falsche Hautfarbe für diese Haarpracht hatten. Mitte Juli musste die Schweizer Mundart-Reggae Band Lauwarm in Bern ihr Konzert abbrechen; im August war es der Wiener Gitarrist Mario Parizek in Zürich, dem das Konzert am Veranstaltungstag abgesagt wurde. Beides geschah, weil Gäste sich unwohl fühlten.

Dieses neue Unwohlsein lohnt einer näheren Betrachtung. Vorher sollte aber nochmal daran erinnert sein, dass man bei Missfallen einer künstlerischen Darbietung diese gar nicht erst besucht oder aber sich einfach selbst davon entfernt und so den Menschen, die dafür Karten erworben haben sowie natürlich den Künstlerinnen und Künstlern die Freude daran nicht verdirbt.

Mit solchen eigentlich obligaten Gepflogenheiten halten sich die neuen Ritter des Rechts allerdings nicht mehr auf. Mit fast religiösem Eifer als Missionare einer neuen Ordnung frönen sie ihrer trüben Leidenschaft der Aufspürung und Denunziation von Problematischem und fühlen sich permanent berufen, im saviour-mode für Gruppen zu sprechen und zu agieren, die sie in den wenigsten Fällen darum gebeten haben.

Ich denke, man darf im Falle der Schweizer Rasta-Gates davon ausgehen, dass der Anteil schwarzer Menschen, die schwer darunter zu leiden haben, wenn weiße Musiker mit verfilzten Haaren auftreten, in beiden Venues auch mit viel Optimismus an einer Hand hätte abgezählt werden können.

Tue Gutes und poste darüber

Hinter so edlen Gesten wie jenen Konzertverhinderungen verbirgt sich meist nicht viel mehr als das narzisstische Schürfen von Distinktionsgold auf dem Markt der Aufmerksamkeit, wo Moral gerade die heißeste Währung darstellt.

Tue Gutes und rede beziehungsweise poste darüber. "Cultural Appropriation" lautet dann der Vorwurf, mit dem nicht nur weiße Rastafreunde von der Bühne geholt wurden, sondern ein reinheitsfixierter Biedergeist – diesmal von links – die mäandernden Felder Kunst und Kultur sortieren möchte wie eine Schmetterlingssammlung.

Im Introtext des Programms zum diesjährigen Donaufestival, das unter dem Motto "Stealing the Stolen" um das Spannungsfeld kulturelle (Wieder-)Aneignungen kreiste, schrieb sein künstlerischer Leiter Thomas Edlinger: "Der Festivaltitel 'Stealing the Stolen' ruft den Umstand in Erinnerung, dass es keine Essenz von Kultur gibt – und somit auch keine Entwicklung ohne (Wieder-)Aneignungsprozesse von Nicht-Zugehörigem, Verlorenem oder zuvor schlicht nicht Verfügbarem. "

Bilde dir meine Meinung

Dieser spürbar mit aller Vorsicht verfasste Appell für fluide Besitzverhältnisse von Kultur und für eine Differenzierung zwischen Inspiration und Aneignung sowie der im (inzwischen zurückgezogenen) Festivalreader veröffentlichte Essay "Paint it black" des Kommunikationswissenschafters Karl Bruckmaier, der sich darin mit der Geschichte des "Blackfacing" auseinandersetzt, reichten schon aus, um die Empörungstruppen in Aktion zu versetzen. Dies geschah kraft "Mai Ling" – eines Wiener Aktivistinnenkollektivs, das sich über eine asiatische Abstammung definiert und sofort drauflostrollte, der Donaufestival-Text sei "very problematic and racist" und "not worthy of time and energy as it is written with the very intention of provocation".

"Bild dir meine Meinung" war also mal wieder die Devise. All diesen selbsternannten Kulturkommissarinnen und Kulturkommissaren möchte man das folgende von Vladimir Nabokov stammende Anfangszitat aus Bruckmaiers Essay am liebsten eintätowieren: "Bis man mich erschießt, werde ich darauf beharren, dass Kunst, sobald sie mit Politik in Berührung gebracht wird, unvermeidlich auf das Niveau beliebigen ideologischen Plunders herabsinkt."

Das bisschen Hitler

Auf dieses Niveau hat sich heuer auch die Documenta in Kassel begeben. Entgegen allen Unkenrufen war es laut Bazon Brock im Interview mit dem Deutschlandfunk doch "die beste Documenta, die es je gab". Denn für den Kunst- und Kulturtheoretiker zeichnet diese Documenta ein kristallklares Abbild der aktuellen Weltlage: Die Schau strotze gerade so von kulturalistischen Positionen, entäußert von Kollektiven aus dem Globalen Süden, die in Kassel allesamt Kunst mit Kultur verwechseln und im Namen ihrer jeweiligen kulturellen Identitäten Sozialaktivismus und politische Anklage betreiben – also das Gegenteil von Kunst. Der australische Künstler und Aborigine-Aktivist Richard Bell sagt es im Gespräch mit Arte frei heraus: "Ich bin ein Aktivist, getarnt als Künstler."

Das europäische Prinzip von Autorität durch die reine Autorenschaft eines Individuums, hinter dem nichts als seine Ideen stehen, wurde auf der Documenta Fifteen laut Brock pompös zu Grabe getragen. Individuelle künstlerische Positionen außerhalb von aktuellen Legitimationsquellen wie Ethnie, Religion oder Herkunft fand man heuer in Kassel kaum. Damit bildet diese Documenta laut Brock auch präzise die politische Weltlage ab: Eine Welt, geprägt von Despoten wie Trump, Putin, Xi, Orbán oder Erdoğan, deren kulturalistische, identitäre und ethnopluralistische Argumentationen von links längst übernommen wurden.

"People's Justice" von Taring Padi auf der Documenta Fifteen.
Foto: IMAGO/Hartenfelser

Vor der Selbstgerechtigkeit dieses neotribalen Geschunkels galten jüdische Befindlichkeiten auf der Documenta – auf der übrigens keine jüdischen Künstler und Künstlerinnen eingeladen waren – nur noch als Spielverderberei. Krasser und eindeutiger Antisemitismus wie die Darstellung eines Mossad-Polizisten samt Schweinerüssel und Davidstern in "People's Justice" – einem inzwischen demontierten Riesenbild des indonesischen Kollektivs Taring Padi – galt als Kavaliersdelikt. Denn auch das sei doch ein Werk, das bitte schön in seinem kulturellen Kontext zu lesen sei; und das bitte schön auch hier, in Deutschland.

Ein Gespür für den kulturellen Kontext des Gastlandes braucht trotz aller Identitätssensibilität anscheinend niemand mehr mit nach Kassel zu bringen. "Das bisschen Hitler? Jetzt habt euch mal nicht so, liebe Juden, und hört endlich auf, aus der Reihe von kolonialen Verbrechen zu tanzen mit eurer Shoa, auf deren Singularität ihr immer so pochen müsst." So der absurde Grundtenor des postkolonialen Lagers, dessen kapitalster Denkfehler es ist, Israel als ein koloniales Projekt zu beschreiben, und das mit Winnetou ein größeres Problem zu haben scheint als mit der "Judensau" auf der Documenta Fifteen.

Winnetou – Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Foto: dpa / dpa Picture Alliance / pic

Wenn die Rassismuskeule zum Bumerang wird

Die letzte traurige Nebelkerze dieses Milieus gegenüber jedweder Kritik ist dann, dass diese letztlich immer rassistisch sei. So geschehen aktuell auch in der aggressiven Entgegnung von Ruangrupa, dem kuratierenden Kollektiv der Documenta15, auf die Antisemitismusvorwürfe mit dem wenig einsichtigen Titel: "Wir sind verärgert, müde, traurig, aber vereint."

Dass sich jene Akteure und Akteurinnen mit ihrer Rassismuskeule vor allem selbst eins auswischen, da sie sich so von Inhalten produzierenden, kritikfähigen Individuen herabstufen auf arme, entmündigte Träger und Trägerinnen von Kollektivattributen wie Ethnie, Religion oder Melaninanteil in der Haut, kommt ihnen in ihrer holzschnittartigen Matrix trotz allen Kalküls leider nicht in den Sinn.

Die gleichen Gruppen, die ätzende Darstellungen wie im Bild "People's Justice" übersehen oder gar zu relativieren versuchen, maßen sich vollkommen schmerzfrei an, Menschen vorschreiben zu können, welche Frisuren oder Schmuck sich aufgrund ihrer Ethnie für sie schicken und welche nicht oder wer wie sprechen darf, welche Bücher, Filme und Kunstwerke noch okay sind und welche inzwischen aus dem Verkehr gezogen gehören.

Wer möchte schon jemanden verletzen?

Die Einengung ganzer Debatten auf den Identitätsfaktor und dessen Verletzlichkeitspotenziale schafft ein erpresserisches Diskussionsklima, denn wer möchte schon jemanden verletzen? Doch wenn es bereits verletzt, dass jemand eine andere Meinung hat, wird die Luft dünn. Der Diskurs wird brutal reduziert auf ein binäres Gut gegen Böse. Die eskalationsfördernden und blasenbildenden Algorithmen der Social-Media-Plattformen, auf denen diese Kämpfe in der Regel ausgefochten werden, tragen noch das ihre zur Debattenverätzung bei.

So entsteht ein Ort, an dem es nur noch die eine, die richtige Haltung gibt und alles andere zutiefst problematisch ist und korrigiert gehört. Es kristallisiert sich eine politische Atmosphäre zwischen (Selbst-)Zensur und Denunziation heraus, die man so auch aus totalitären Kontexten kennt. Dass sich nun eine Gruppe, die ein tolerantes, progressives, liberales und weltoffenes Selbstverständnis hat, die autoritäre Intoleranz des politischen Gegners angeeignet hat, befremdet und beängstigt umso mehr, als es zeigt, dass nicht nur Dreadlocks allen gehören können. (Alexander Keppel, 15.9.2022)