Vida-Chef und ÖBB-Betriebsratschef Roman Hebenstreit sagte am Mittwoch, man werde bei den kommenden Verhandlungen auch keine Arbeitskonflikte scheuen.

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Wien – Die zahlreichen Auswirkungen der aktuellen Krisen versprechen einen heißen Tarifherbst. Die Gewerkschaft drängt im Vorfeld der Herbstlohnrunde nicht nur auf einen Mindestlohn von 2.000 Euro brutto. Sie will auch Kollektivvertragsverhandlungen für hunderttausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Verkehrs- und Dienstleistungsbereich von der Eisenbahnerin bis zum Friseur vorziehen. Eigentlich würden diese erst 2023, also Monate nach richtungsweisenden Metaller-KV-Verhandlungen, beginnen, die am Montag starten.

Hebenstreit: Entlastungsmaßnahmen der Regierung verpuffen

"Die Löhne müssen jetzt steigen, denn die Beschäftigten müssen mit ihren Einkommen gut auskommen und leben können", sagte Vida-Chef und ÖBB-Betriebsratschef Roman Hebenstreit am Mittwoch. Konkret gefordert werden Sonderkollektivvertragsverhandlungen für die Beschäftigten in allen für die Vida relevanten Branchen. Dort arbeiten laut Gewerkschaftsangaben gut 500.000 Menschen. Mit Abstand größtes Einzelunternehmen ist die ÖBB, größte Teilbranche ist der Tourismus mit rund 220.000 Arbeitskräften.

"Es wird an den Sozialpartnern liegen einen Rettungsschirm zu öffnen", sagte Hebenstreit. "So wie die Regierung gegensteuert, verpuffen die Entlastungsmaßnahmen gegen die Teuerung bei ganz vielen Menschen sehr schnell."

Wer die Kosten der Krise trägt

Die bisherigen von der Regierung geschnürten Hilfen wie etwa die Strompreisbremse sowie das Aus der kalten Progression reichten nicht, so Hebenstreit – auch wenn man die Maßnahmen grundsätzlich begrüße. "Sie wirken aber nur punktuell und kommen zu spät. Es braucht beides, höhere Löhne und mehr treffsicherere staatliche Maßnahmen." Beim Aus der kalten Progression werde man erst nächstes Jahr konkret analysieren, wie sich das auf die unteren Einkommensklassen auswirke.

Es drehe sich auch um Wohn- und Mietkosten sowie Lebensmittelpreise. "Am Ende geht es darum, wer die Kosten für die Krise trägt: Jene, die es sich leisten können oder jene, die sich nicht wehren können."

Gewerkschaft wartet auf Reaktion von Wirtschaftskammer

Außerdem könne die Öffentliche Hand etwa ein viel stärkeres Bestbieterprinzip anwenden. Die Politik müsse nur beschließen, öffentliche Aufträge nur mehr an Firmen zu vergeben, die mindestens 2.000 Euro brutto bezahlen. Das derzeitige Bestbieterprinzip sei "nur ein Feigenblatt und in Wahrheit ein Billigstbieterverfahren".

Hebenstreit macht sich besonders Sorgen um die Tourismusbranche. Er rechnet damit, dass einige Fachverbände in der Wirtschaftskammer bereit sein werden, die KV-Verhandlungen vorzuziehen, andere nicht. Insgesamt verhandelt die Vida 150 Kollektivverträge, manche auch gemeinsam mit anderen Teilgewerkschaften. Ihr Gegenüber sind in der Sozialpartnerschaft immer die zuständigen Spartenvertreter der Wirtschaftskammer (WKO). An diese und an WKO-Chef Harald Mahrer hat die Vida am Mittwoch Briefe mit entsprechenden Aufforderungen zu raschen teuerungsbedingten Sonder-KV-Verhandlungen geschickt.

WKO-Spartenchefs kritisieren "Pauschalverurteilungen"

Die WKO blieb vorerst unkonkret und machte keine Gesprächszusagen. Auf Anfrage verwies man auf eine Reihe von Regierungsmaßnahmen, "darunter Teuerungsausgleiche, die vorzeitige Auszahlung des Klimabonus oder die Abschaffung der kalten Progression – die insbesondere kleine und mittlere Einkommen entlasten und nachhaltig auf Löhne und Gehälter wirken". Es brauche "in Zeiten wie diesen in besonderem Maße Vernunft, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß der Verhandlungspartner, denn die wirtschaftliche Lage ist ernst".

Johann Spreitzer von der WKO-Sparte Tourismus und Freizeitwirtschaft sowie Mario Pulker von der WKO-Sparte Gastronomie kritisierten Hebenstreit für dessen "Pauschalverurteilung. Wir sind laufend in Abstimmung und reagieren auf sich ändernde Gegebenheiten." Anfang des Jahres habe man bereits wegen der steigenden Inflation einer außerordentlichen Nachverhandlung der diesjährigen Lohnsteigerung von 2,5 auf 3,7 Prozent zugestimmt. Hebenstreit blieb dabei, er werde weiterhin auf Missstände in der Gastronomie und Hotellerie hinweisen.

Hebenstreit wirbt für Gewerkschaftsbetritt

Freilich sei es in manchen Branchen schwierig, einen Mindestlohn von 2.000 Euro umzusetzen, gestand der Vida-Chef ein, die Forderung sei aber ernst. Je niedriger der gewerkschaftliche Organisationsgrad sei, desto schwieriger sei es. Daher rief Hebenstreit im Besonderen Menschen aus solchen Branchen dazu auf, der Gewerkschaft beizutreten – etwa Friseurinnen und Friseure oder Personen aus dem Bewachungsgewerbe und der Kosmetikbranche. Auch bei den hohen Einkommen bleibe die Grundforderung eines Inflationsausgleichs.

Rückendeckung bekam Hebestreit bei der Pressekonferenz von Vertretern von Branchen, in denen die Probleme laut Gewerkschaft besonders groß sind. "In der Bewachung verdienen 90 Prozent der Beschäftigten bei 40 Stunden Arbeit in der Woche weniger als 2.000 Euro brutto, gut die Hälfte sogar nur 1.700 Euro brutto", beklagte Gernot Knopp, Vizebetriebsratschef bei der Scuritas SDL GmbH. Die Betriebsratschefin des Systemgastronomen Nordsee, Eva Eberhart, erinnerte daran, dass gerade in der Gastronomie zuletzt viel Kurzarbeit herrschte, durch die man bei relativ niedrigen Gehältern weitere Einbußen habe hinnehmen müssen.

Es gibt auch Branchen, in denen noch nicht einmal 1.500 Euro netto im Monat als Basislohn verdient werden. Bei Friseurinnen und Friseuren sind es 1.290 Euro netto, bei Reinigungskräften 1.360 Euro, im Hotel- und Gastgewerbe 1.325 Euro netto, in der Bewachung 1.373 Euro, in der Pflege 1.383 Euro. Die Armutsgrenze liegt laut Gewerkschaft unter Berufung auf die Schuldnerberatung – noch nicht an die neuesten hohen Inflationswerten angepassten – bei knapp 1.400 Euro netto im Monat für Einpersonenhaushalte. (APA, 14.9.2022)