Von der Ordination in den Gerichtssaal: das Schicksal eines 51-jährigen Wieners, der im August seine Nerven verlor.

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Wien – Gelegentlich darf man sich auch selbst für eine außergewöhnliche Leistung loben. Zum Beispiel wenn man es bereits jahrzehntelang geschafft hat, beim Besuch eines Hausarztes nicht vor der Strafrichterin zu enden. Herbert B., 51 Jahre alt und doch schon 13-mal vorbestraft, ist in Wien-Simmering an dieser schwierigen Aufgabe am 10. August gescheitert und findet sich deshalb mit einer Anklage wegen gefährlicher Drohung vor Richterin Magdalena Klestil-Krausam wieder.

Der sehr stark tätowierte Österreicher bekennt sich teilweise schuldig. Er habe damals seine Mutter in die Ordination begleitet, in den engen Räumlichkeiten habe ihn die 47 Jahre alte Frau M. angerempelt, als sie bei ihm vorbeiwollte. Kurz darauf soll M. auch noch die Mutter angerempelt haben, es kam zum Streit, sagt der Angeklagte.

Vergesslicher Angeklagter

"Haben Sie Frau M. als Trampel beschimpft?", will Klestil-Krausam wissen. "Nein", ist B. sich sicher. "Das haben Sie aber selbst gesagt", hält die Richterin dem Angeklagten seine Aussage bei der Polizei vor. "Aso, ja, das stimmt", korrigiert der Notstandshilfebezieher sich. Er will auch nicht kategorisch ausschließen, dass er den angeklagten Satz "I wort auf di unten. Kumm nur oba, i werd di nidafetzn, du Schlampen!" von sich gegeben hat. Aber er habe ihn nie und nimmer ernst gemeint, beteuert der ohne Verteidiger erschienene Angeklagte.

Außerdem habe ihm Frau M. auch mehrmals unterstellt, betrunken gewesen zu sein, ärgert B. sich. Und er gibt ungefragt sogar eine weitere Unmutsäußerung zu: Da er der Meinung war, dass der Arzt mit seiner Mutter schreit, habe er auch diesem lautstark die rhetorische Frage gestellt: "Du Kasperl, soll ich dir ein paar geben?"

"Kein ganz ungetrübtes Vorleben"

Mittlerweile tue ihm die ganze Angelegenheit leid, gibt der Angeklagte zu. "Es war heiß. Vielleicht war ich ein wenig hitzig", gesteht er ein. "Das ist eine Idee", gibt ihm Klestil-Krausam trocken recht. "Jetzt haben Sie ja kein ganz ungetrübtes Vorleben", untertreibt die Richterin, "da ist es nicht klug, sich in so eine Situation zu bringen."

Frau M. sagt als Zeugin, sie wisse nicht, wieso B. damals so ausgerastet sei. Sie beteuert, weder ihn noch die Mutter je berührt zu haben, der Angeklagte habe unmotiviert zu schimpfen begonnen. Sie selbst will ganz ruhig geblieben sein und ihn ignoriert haben. Nur gegenüber den Ordinationsmitarbeiterinnen will sie ihre Vermutung geäußert haben, der Angeklagte sei betrunken.

Potpourri an Beleidigungen

Wie sich im Verlauf des Verfahrens herausstellt, war B.s Umgangston jedenfalls rau. In der Ordination oder später gegenüber der Polizei soll er Frau M., in alphabetischer Reihenfolge, als "Behinderte", "Idiotin", Scheißausländerin", "Schlampe" und "Trampel" beschimpft haben.

Der Arzt, in dessen Praxis sich der Vorfall ereignete, hat allerdings eine etwas andere Erinnerung als Frau M., wie er als Zeuge aussagt. Er sei im Behandlungszimmer gewesen, da habe im Warteraum "die Lautstärke ziemlich zugenommen", drückt der Mediziner sich gewählt aus. Als er nachsah, seien B. und M. sich zehn bis 20 Zentimeter entfernt gegenüber gestanden und hätten sich "ein heftiges Wortgefecht geliefert". Er habe versucht, die beiden Streitparteien zu trennen, mit bescheidenem Erfolg. "Ich habe gesagt, dass sie sich bitte mäßigen sollen, was aber nicht funktioniert hat", erzählt er der Richterin.

"Es haben sich beide nicht zurückgehalten"

Er forderte B. schließlich auf, im Stiegenhaus zu warten, was die Situation aber nur bedingt beruhigte. Denn kurz darauf stieg die Lautstärke wieder an. "Dann ist das Ganze wieder von vorne losgegangen." Er habe daher die Polizei alarmiert. Insgesamt lautet seine Conclusio: "Ich hätte es so eingeordnet, dass sich beide nicht zurückgehalten haben, aber die Dame dann in die Defensive geraten ist." – "Es tut mir leid, Herr Doktor, dass das in Ihrer Ordination passiert ist", entschuldigt der Angeklagte sich. "Ist schon okay. Es war halt die Emotion", gibt sich der Arzt versöhnlich.

Für Klestil-Krausam zeigt die Aussage des unbeteiligten Zeugen, dass es sich um eine "situationsbedingte Unmutsäußerung" bei einem Streit gehandelt habe und B. die Drohung nicht ernst gemeint habe, also die subjektive Tatseite gefehlt habe. "Es ist moralisch nicht in Ordnung", stellt sie klar, aber strafrechtlich sei der Angeklagte daher freizusprechen. Auch der Staatsanwalt hat keinen Einwand, das Urteil ist daher rechtskräftig. "Sie sind, auf Wienerisch gesagt, ein bissi ein Häferl", rät die Richterin für künftige Arztbesuche zur Mäßigung. (Michael Möseneder, 14.9.2022)