"Beim Stresstest der Grundrechte ist unsere Verfassung nicht so schlecht": Michael Holoubek.

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Barbara Leitl-Staudinger: "Es braucht jemanden, der diesen Diskurs führt und führen will."

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Spitzenjuristinnen und Spitzenjuristen des Landes im Medienrecht und öffentlichen Recht diskutieren ab Donnerstag in Wien über Meinungsfreiheit und Grundfragen der Medien- und Kommunikationsfreiheit. Das Thema dieses "Rundfunkforums" erinnert an einen der Wichtigsten des Fachs, Walter Berka, der 2021 überraschend starb.

Wie steht es um die Meinungsfreiheit und den demokratischen Diskurs in der digitalen Welt? Barbara Leitl-Staudinger, Leiterin des Instituts für multimediales Recht an der Linzer Kepler-Uni und Ersatzmitglied am Verfassungsgerichtshof, und Michael Holoubek, Rechtsprofessor an der Wirtschaftsuni Wien und Verfassungsrichter, zur Lage.

STANDARD: Muss man sich im Herbst 2022 in Österreich um Meinungsfreiheit Sorgen machen?

Holoubek: Das kommt darauf an, wohin man schaut. Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, über klassische Bedrohungsszenarien wie staatliche Meinungskontrolle und Zensur müssen wir nicht mehr reden. Heute findet das in unserer näheren europäischen Nachbarschaft, in Europa statt. Das bedarf unserer Aufmerksamkeit. Zu dem Thema gehören auch staatliche Informationspolitik und die Frage: Wie weit mischt sich der Staat in Inhalte ein, wenn er Medien fördert?

STANDARD: Sehen Sie in Österreich Probleme?

Holoubek: Wenn man mit den Grundrechten in Österreich eine Art Stresstest macht, ist unsere Verfassung nicht so schlecht. Wir können mit direkten Eingriffen gut umgehen. Es gibt gute Ansätze, und man kann davon ausgehen, das sich Gerichte solche Einflussversuche anschauen würden. Dafür sind die Gerichte, auch die Zivilgerichte, gut gerüstet. Auch für die Grundrechtsbindung von Förderungen gibt es Instrumente. Wenn alle den vorhandenen Werkzeugkoffer richtig einsetzen, bin ich da relativ ruhig.

STANDARD: Wie sieht das in der digitalen Welt aus?

Holoubek: Da kommen wir in einen Bereich, in dem Meinungsfreiheit weiter ausgelegt wird als der klassische Austausch und Wettbewerb von Meinungen. Da sind wir etwa bei Hate-Speech…

STANDARD: Es gibt ein Grundrecht auf Meinung, aber keines auf Beleidigung oder Verbalattacke …

Holoubek: Es gibt vor allem kein Grundrecht auf Diskriminierung anderer, und es gibt vor allem kein Grundrecht auf Ausgrenzung oder gar darauf, Menschen über psychischen Druck bis in den Suizid zu treiben. Wir hatten ja das Beispiel in Oberösterreich gerade. Da gibt es schon Instrumente: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Fall in der Türkei – dort ging es um eine Tageszeitung – festgehalten, dass der Staat verpflichtet ist, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Redaktionen vor massiven Bedrohungen durch Dritte zu schützen. Diese Instrumente stehen an den Anfängen. Da werden wir in Zukunft noch einiges zu diskutieren haben.

STANDARD: Frau Professor Leitl-Staudinger, Sie sprechen Donnerstag beim Rundfunkforum über Meinungsfreiheit als demokratisches Grundrecht. Stehen wir da nicht vor einer grundlegenden Gefahr für die Demokratie insgesamt?

Leitl-Staudinger: Walter Berka hat vor sechs Jahren in seinem letzten Vortrag bei einem Rundfunkforum hinterfragt, ob die Meinungsfreiheit in einer digitalen Ära überhaupt neu zu denken und zu vermessen ist. Öffentliche Kommunikation habe sich grundlegend gewandelt – und man könne auf zwei Arten damit umgehen: Entweder gehe es nicht mehr um das Grundrecht auf öffentliche Kommunikation, sondern um Datenschutz. Oder um eine Art skeptischen Optimismus: Meinungsfreiheit habe nach wie vor eine demokratische Bedeutung; aber es brauche ein Medienrecht, das entsprechende Rahmenbedingungen schafft.

STANDARD: Gibt es Anlass für einen solchen skeptischen Optimismus?

Leitl-Staudinger: Das Internet ist hinter den Erwartungen geblieben. Es ist nicht der einmal erhoffte Motor für demokratischen Diskurs. Phänomene wie Hate-Speech und Fake News haben viele abgeschreckt. Aber es gibt Ansätze, nationale und vor allem europäische. Solche Ansätze versucht der Digital Services Act der EU, der kurz vor der Verabschiedung steht.

STANDARD: Welche Rahmenbedingungen kommen da?

Leitl-Staudinger: Ich würde gern drei Bereiche herausgreifen: Grundvoraussetzung ist die Entfernung rechtswidriger Inhalte – verbotene Hate-Speech etwa; ebenso wichtig sind Maßnahmen gegen Filterblasen und Echokammern. Und zum dritten ein Rechtsrahmen gegen Manipulation durch Fake News oder Social Bots, die Mehrheiten vorgaukeln.

STANDARD: Können solche Maßnahmen einen sicheren digitalen Diskurs ermöglichen?

Leitl-Staudinger: Ich sehe es als positiv, dass man diese Probleme adressiert und Gegenmaßnahmen setzt. Der Digital Services Act (DSA) hat etwa interessante Ansätze zum Thema Meinungsaustausch: Da geht es um Offenlegung und Transparenz von Empfehlungssystemen – wie werden Informationen, Beiträge für User gereiht? Sehr große Kommunikationsplattformen müssen zudem ihren Nutzerinnen und Nutzern eine Auswahlmöglichkeit bieten, die nicht auf ihren bisherigen Nutzungspräferenzen basiert. Das öffnet schon ein Stück weit den Weg hinaus aus Filterblasen – wenn es der Nutzer denn wünscht.

STANDARD: Wie sinnvoll sind die Ansätze gegen Fake News?

Leitl-Staudinger: Der DSA baut beim Thema Manipulation stark auf Selbstregulierung. Er verlangt, dass die Plattformen ihr Geschäftsmodell auf Risiken analysieren und sich in einem zweiten Schritt überlegen: Wie können sie diesen Gefahren entgegenwirken – und so auch einen öffentlichen Diskurs ermöglichen. Das liegt aber stark im Ermessen der Plattformen. Da könnte der DSA verbindlicher sein – und etwa vorschreiben, dass Social Bots als solche gekennzeichnet werden müssen.

STANDARD: Einen Teil der Menschen, die sich da austauschen, scheint die Bestätigung ihrer Sicht mehr zu interessieren als das, was ist.

Holoubek: 50 Jahre nach den "Grenzen des Wachstums" gibt es wieder einen Bericht des Club of Rome unter dem Titel "Earth for all". Mit der Botschaft: Unser ganz großes Problem ist nicht allein der Klimawandel, sondern die Tatsache, dass wir die Fähigkeit verloren haben, über ganz grundsätzliche Dinge einig zu sein – ob etwas richtig oder falsch ist. Wir können uns in unserer öffentlichen Debatte nicht einmal mehr über Fakten als Ausgangspunkt einigen. Wenn wir das nicht mehr schaffen, geht die Basis verloren, die jede öffentliche Debatte braucht, um demokratische Legitimität zu haben, um akzeptiert zu werden. Wenn ich alles infrage stelle, wenn alles nur noch auf die subjektive Sichtweise ankommt, man keine gemeinsame Basis findet, von der man ausgeht, auf die man sich verständigt: Dann haben wir ein gewaltiges Problem mit der Meinungsfreiheit als Grundpfeiler der Demokratie.

Leitl-Staudinger: Der Digital Services Act stellt daher verstärkt auf Transparenz ab, aber auch auf mehr Möglichkeiten der Nutzerinnen und Nutzer. Er kann einen Rahmen schaffen, dass öffentlicher Diskurs wieder möglich ist. Aber es braucht dafür Nutzer, die mit dieser Transparenz etwas anfangen können, die das interessiert. Nutzer, die sich überlegen, welche der Optionen er auswählt. Und es braucht jemanden, der diesen Diskurs auch führt und führen will.

STANDARD: Und wenn ein Teil der Nutzer Meinungsfreiheit so radikal verstehen will, dass einen Fakten nicht weiter kümmern? Das könnte, sagen Kommunikationswissenschafter, etwa ein Drittel der Menschen sein.

Leitl-Staudinger: Das ist ein Henne-Ei-Problem. Wie viele Menschen lassen sich durch die Fehlentwicklungen im Internet vom öffentlichen Diskurs abschrecken? Und wie viel können die regulatorischen Ansätze gegen diese Fehlentwicklungen bewirken, um Menschen für diesen Diskurs zu interessieren? Das lässt sich schwer abschätzen. Als Optimistin finde ich: Es ist diesen Versuch wert. Es wird aber Zeit brauchen, damit diese regulatorischen Mechanismen greifen – und man muss laufend nachschärfen. Wenn Menschen das Interesse an diesem öffentlichen Diskurs nachhaltig verloren haben, dann hat auch der beste Rechtsrahmen keine Chance, das zu beheben. Aber ich bin zuversichtlich, dass mit einem besseren Rechtsrahmen das Interesse zurückkehrt.

Holoubek: Es geht hier auch um grundlegende Voraussetzungen von Meinungsfreiheit; auf diese auch zu schauen ist eine öffentliche, eine staatliche Aufgabe. Wenn eine erkleckliche Anzahl der jungen Menschen Schwierigkeiten hat, sinnerfassend größere Texte zu lesen, dann ist das zum einen einem neuen medialen Umfeld geschuldet, aber vielleicht wäre es auch gut, wenn sie es können. Und wenn wir in unserem Land unterschiedliche Sprachen haben, dann werden wir auch diesen Menschen helfen müssen, davon Gebrauch zu machen. Es ist dann immer noch die Entscheidung jedes und jeder Einzelnen, das Angebot anzunehmen. Es ist wichtig, möglichst viele in die Lage zu versetzen, sinnvoll zu kommunizieren.

STANDARD: In seiner aktuellen Entscheidung über GIS und Streaming betont der Verfassungsgerichtshof die Funktion, "die Freiheit des öffentlichen Diskurses im Wege des Rundfunks zu gewährleisten". Bleibt das die Funktion und Aufgabe klassischer Medien in der digitalen Welt?

Holoubek: Hoffnungen auf ein basisdemokratisches Internet haben sich nicht bewahrheitet. Wir reden dort nicht einfach niederschwellig miteinander. Es reden hier vor allem jene miteinander, die ohnehin einer Meinung sind. Die technischen und ökonomischen Bedingungen der Plattformen unterstützen das. Die Funktion der Massenmedien ist nicht alleine, zu berichten, sondern auch eine Plattform zu bieten, eine Öffentlichkeit herzustellen, damit nennenswerte Gruppen dort miteinander kommunizieren – und nicht nur in der eigenen Gruppe. Diese Funktion braucht es, wenn unser Modell von Meinungsfreiheit weiter funktionieren soll. (Harald Fidler, 15.9.2022)