Psychoanalytiker und Sexualtherapeut Josef Christian Aigner ärgert sich in seinem Gastkommentar darüber, dass einige wenige konservative Bischöfe den Versuch einer Neuaufstellung der Kirche in Sachen Sexualmoral verhindert haben.

Sehr oft beim Thema Sexualität kommt es zum Aussetzen von Seele und Verstand – so offenbar auch bei den konservativen deutschen Bischöfen. Kürzlich sollte in Frankfurt am Main bei einer Vollversammlung des deutschen "synodalen Wegs" ein Text mit Anregungen zu einer neuen Sexualmoral der Kirche beschlossen werden. Er fand dabei die Zustimmung einer großen Mehrheit (83 Prozent) der Delegierten, auch von 61 Prozent der Bischöfe, eine Sperrminderheit (39 Prozent) konservativ-reaktionärer Oberhirten aber verhinderte die notwendige Zweidrittelmehrheit.

Immer mehr Menschen halten die katholische Kirche für "vorgestrig" und unglaubwürdig. Intern streiten Konservative und Reformer um die Linie.
Foto: Imago Images

Dabei gehören gerade Fragen der Sexualmoral – nicht nur das Missbrauchsgeschehen! – zu jenen Themen, die die Kirche immer mehr als rückständig und unglaubwürdig erscheinen lassen: das Zwangszölibat, der Umgang mit Homosexualität und sexuellen Minderheiten, der Wiederverheiratung Geschiedener und auch die Frauenfrage. Viele Menschen betrachten die kirchliche Haltung zu Recht als lebensfremd und "vorgestrig". Für junge Menschen ist die Kirche gar keine kritikwürdige Instanz mehr, sondern einfach nicht mehr vorhanden. Dies ignorierend beschuldigten konservative Kardinäle und Bischöfe die deutschen Liberalisierungsbemühungen einer Anpassung an den Zeitgeist (auch Kardinal Christoph Schönborn übrigens) und unterstellten damit – wenig brüderlich! – eine kritiklose Übernahme fragwürdiger sexueller Umtriebigkeit.

Positive Überraschung

Was steht denn nun eigentlich in der Beschlussvorlage "Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft"? Zunächst überrascht positiv, dass endlich einmal die Lebens- und Liebensrealität der Menschen nicht sturheil verleugnet, sondern ernst genommen wird. Der oft beschworene Dialog mit den Humanwissenschaften wird mit dem Ziel der "Überwindung einiger Engführungen in Fragen der Sexualität aus sexualwissenschaftlichen wie theologischen Gründen" ausdrücklich gesucht. Dabei wird betont, dass es in der Bibel selbst nur sehr wenige und ungenaue Stellen zur Praxis gelebter Sexualität gibt.

Und die müssten natürlich historisch – anstatt pharisäerhaft-wortgläubig – gesehen werden: Die Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse zur Zeit der Abfassung der Bibeltexte waren grob-patriarchale, vor deren Hintergrund viele moralischen Ermahnungen (Schutz der Schwächeren wie Frauen und Kinder) auch anders zu verstehen sind. Zugleich, und das dürfte die armen Seelen mancher Bischöfe getroffen haben, wird mit den bisherigen Verhältnissen kirchlichen Umgangs mit Sexualität ins Gericht gegangen, etwa dass ein "Mangel sexueller Reife und Bildung als systemische Ursache und als Risikofaktor für sexualisierte Gewalt und Grenzverletzung" in kirchlichen Einrichtungen verantwortlich zeichne, weshalb "sexuelle Bildung und Sexualpädagogik künftig einen neuen Stellenwert" erhalten sollen. Bravo, kann man aus sexualwissenschaftlicher Sicht nur sagen! Das Dokument enthält sogar eine Entschuldigung dafür, dass die "Fixierung der Sexualität auf die Ehe" Menschen diskriminiert habe, die als Alleinerziehende oder Single damit "durch rigide Moralvorschriften diszipliniert und bevormundet wurden".

Eigenes Gewissen

Auch die sexualmoralische "Fixierung auf die genitale Sexualität" (durch das Fruchtbarkeitsgebot bei jedem Sexualakt) sei eine biologistische Sichtweise, die jeder ganzheitlichen Ethik widerspreche. Im Gegensatz dazu zählen die Befürworter es zur "Würde jeder menschlichen Person", Partnerschaft und Sexualverkehr selbstverantwortlich und nach eigenem Gewissen wählen zu können – auch homosexuelle Partnerschaften. "Die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Legitimität nicht-heterosexueller Orientierungen (...) ist dringend geboten". Diese offenbar gegen die Homophobie mancher Würdenträger gerichteten Forderungen verbieten auch "alle Formen von Diskriminierung und Forderungen nach ihrer nicht medizinisch indizierten Manipulation, etwa durch Konversionstherapien"; Letzteres ist ja ein beliebtes Versatzstück erzkonservativer Christen.

Auch die Selbstbefriedigung ("selbststimulierende Sexualität") wird als Möglichkeit der Erkundung des eigenen Körpers und legitimer Ausdruck sexueller Lust gewürdigt. Bemerkenswert und in Übereinstimmung mit der Sozialanthropologie ist auch die Kritik einer "übertriebene(n) Idealisierung" der Ehe, vor der auch Papst Franziskus im Schreiben Amoris laetitia schon gewarnt hatte; denn "unzählige Kinder und Erwachsene erfahren auch und gerade in einer vermeintlich idealen Lebensform sexuelle, physische und/oder psychische Gewalt". Deshalb "kann eine Trennung des ehelichen Zusammenlebens dem Wohl der betroffenen Partner*innen dienlich sein". Dies schließt auch den unbarmherzigen (!) Umgang der Kirche mit geschiedenen Wiederverheirateten aus, eine nach wie vor offene "Baustelle" (Ausschluss aus Sakramenten!) der kirchlichen Ehelehre.

Wer immer mehr oder weniger leidvoll mit der Kirche zu tun hat, wird diese von der Mehrheit der deutschen Synodalen getroffenen Ansichten begrüßen. Sie sind – anders als für säkulare Liberale – keine Selbstverständlichkeit. Sie sind ein Schritt auf die Lebensrealität zu und eine Öffnung hin zu einer sexualbejahenden Menschenfreundlichkeit, die der Kirche dringend nottäte.

Geschichtsblinder Starrsinn

"Alle Menschen, die unter den Auswirkungen kirchlicher Sexuallehre gelitten haben, bitten wir von Herzen um Vergebung", schließt das Dokument. Einer entscheidenden bischöflichen Minderheit aber scheint dieses Bekenntnis keine Herzensangelegenheit zu sein. Sie fügen damit ihrer Institution aus lebensfremdem, geschichtsblindem Starrsinn schweren Schaden zu – was zu bedauern ist, birgt doch die Kirche in Zeiten neoliberaler Brutalisierung von Wirtschaft und Politik allemal noch eine Hoffnung auf Humanität. Aber kaum mit solchen Oberhirten. (Josef Christian Aigner, 15.9.2022)