Eine Kulissenstadt in Vårgårda (Schweden): Der Tiroler Fotograf Gregor Sailer fotografierte über Jahre hinweg Potemkin’sche Dörfer. Jetzt widmet ihm das Kunsthaus Wien eine große Ausstellung.

Foto: Gregor Sailer

Menschen spart er aus. Auf den Fotografien, die Gregor Sailer seit mehr als 20 Jahren macht, sind zwar ihre Bauten und Produkte zu sehen, sie selbst kommen aber nicht vor. Das hat zum einen mit dem aufwendigen Verfahren zu tun, unter dem die Bilder des 1980 in Schwaz in Tirol Geborenen entstehen, etwa Belichtungszeiten, die schon einmal eine halbe Stunde dauern können. Viel mehr aber ist es ein künstlerisches Prinzip.

Sailer konfrontiert den Betrachter mit einer Welt, die zwar vom Menschen geschaffen ist, die aber nicht fremder oder unwirklicher sein könnte. Jetzt widmet das Kunsthaus Wien diesem herausragenden Fotografen einer jüngeren Generation eine umfangreiche Mid-Career-Retrospektive – eine Ehre, die wenigen Fotografen zuteilwird. Im Falle von Sailer aber durchaus berechtigt.

Schon in seinen ersten Serien (Sailer arbeitet durch die Bank in über Jahre entstehenden Serien) fiel die umfangreiche konzeptionelle Vorbereitung und Durchführung seiner Projekte ins Auge: Sei es, wenn er den Weg der Kohle zum Koks in einer Kokerei in Dortmund verfolgt, sei es, wenn er die von Tourismusarchitektur verunstaltete alpine Hochgebirgslandschaft dokumentiert. Ersteres erinnert unweigerlich an das Werk von Bernd und Hilla Becher und deren Schülern. Anders als die Düsseldorfer ist Sailer allerdings an keinen Typologien gelegen, ihm geht es um die politischen Implikationen von architektonischen Großprojekten.

Gregor Sailer vor dem Kunsthaus Wien
Foto: Elsa Okazaki

Bei aller Nüchternheit des fotografischen Zugangs blitzt dabei immer auch eine gewisse Faszination für die meist in unwirklichen Landschaften geschaffenen Bauten auf – eine Faszination, die gleichermaßen von Staunen und Kopfschütteln durchdrungen ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die die Ausstellung eröffnende Werkserie The Potemkin Village, die architektonische Fakes und Kulissen zum Gegenstand hat.

Im russischen Susdal fotografierte Sailer mit Planen verklebte Straßenzüge, die im Zuge eines Putin-Besuchs "behübscht" wurden, in China Stadtviertel, die bis ins letzte Detail nach deutschem oder englischem Vorbild geschaffen wurden. Die Frage nach Wahrheit und Lüge begleitet die Fotografie seit ihrem Entstehen – oder anders gesagt: Der Trug ist der Fotografie inhärent.

Mit seiner bis zu 30 Kilogramm schweren Mittel- oder Großformatkamera heftet sich Sailer auf dessen Spuren, er fotografiert Häuserfassaden in der Mojave-Wüste, die für militärische Zwecke errichtet wurden, oder ein Übungsgebiet für Soldaten in der Nähe von Magdeburg samt einer Fake-U-Bahn-Station.

Oftmals dauert es Monate und Jahre, bis Sailer die notwendigen Aufnahmegenehmigungen erhält, im Fall der 2012 erschienenen Serie Closed Cities wurden ihm die entsprechenden Dokumente auch oft gar nicht erteilt. Über mehrere Jahre hinweg sichtete der Fotograf für die Öffentlichkeit geschlossene Orte, von Algerien über Katar bis nach Aserbaidschan.

Polare Seidenstraße

Sailers jüngstes Projekt ist im Obergeschoß des Kunsthaus Wien zu sehen und beschäftigt sich mit der "polaren Seidenstraße", also dem Traum einer See- und Handelsroute über die Nordwestpassage in der Arktis. Über einen Zeitraum von fünf Jahren reiste der Tiroler durch Schnee und Eis zu Kraftwerken und Forschungslaboren, zu Bohrinseln und Abhörstationen. Erst vor einigen Monaten erhielt er schließlich Zutritt zu einer unterirdischen U-Boot-Andockstation in Norwegen.

Aufgrund der jüngsten geopolitischen Verwerfungen wurde sie wieder in Betrieb genommen. Das Torpedolager ist auf Sailers Fotos leer. Es kann aber wohl innerhalb kürzester Zeit befüllt werden. (Stephan Hilpold, 14.9.2022)