Ferdinand von Schirach: Dilemma als dramaturgischer Spielplatz.

Foto: Stephan Rabold

Dreizehn Jahre ist es her, dass Ferdinand von Schirach sein Debüt Verbrechen auf den Markt geworfen hat. Darin versammelte er Geschichten basierend auf Kriminalfällen, die ihm im Beruf als Strafverteidiger untergekommen waren. Weitere Bände, Romane und Stücke zum Themenkreis Mord und Schuld folgten, Stand heute soll er zehn Millionen Bücher verkauft haben. Seit 2019 bewegt er sich aber vom Kriminal immer weiter hinein in sein eigenes Leben. Kaffee und Zigaretten war die erste Kostprobe.

Nachmittage heißt die neue autobiografisch grundierte Textsammlung. Ein offensichtlich erfolgreicher Autor, früher war er Anwalt, nimmt darin mit um die Welt. Etwa nach Taipeh, wo eine Journalistin den Gestressten vorbei an duftenden Straßenküchen in einen Tempel führt, wo sie ihm von einem roten Faden der Liebe erzählt. In Spanien gelangt der Vielreisende als Begleiter einer älteren Dame, die von ihrem Mann für ein junges Model verlassen worden ist, auf die Party eines arabischen Industriellen. In Venetien soll er das Haus von Freunden hüten: eine Villa aus dem 16. Jahrhundert, vielleicht von Palladio gebaut, inmitten eines Parks und seit Generationen in Familienbesitz.

Das Beste ist gerade gut genug

Nicht nur hier merkt man schnell, das Beste ist gerade gut genug. In einem Restaurant in Tokio (dem aus Lost in Translation) lernt er eine Anwältin kennen. Die erzählt ihm, wie sie ihren Freund (Anwalt) mit einem Mandanten (Rockstar) betrogen hat. Zum Abschied schenkt der ihr eine kostbare Uhr. Natürlich ist das Schmuckstück in dieser Logik aber nicht nur teuer, sondern ein Einzelstück von Cartier, einst gefertigt für Marlene Dietrich.

So teuer die Uhren, so billig ist andererseits die Moral der Geschichten. Im Fall der wegen eines Models verlassenen, gekränkten Dame, die nun wegen der jungen Frau in seinem Arm über den Gastgeber ätzt, wird sich herausstellen: Das Model ist seine Enkelin. Seine Frau ist gestorben, er war eh lange traurig.

Das ist die Pointe der fünfeinhalb Seiten. Lassen Sie, liebe Leser, raunt Schirach uns zu, bitte ab von Vorverurteilungen! Wer bitter in die Welt schaut, sieht nur Schändliches!

Ein neues Fischermärchen

Man hat das Büchlein, seinem Titel gemäß, an einem Nachmittag durch. Vielleicht stößt einem auch deshalb so viel Sendungsbewusstsein des Autors bald auf. Manchmal macht er sich in den 26 Kapiteln gar nicht die Mühe, es in eine Geschichte zu verpacken. Man liest dann engagierte Einlassungen über illiberale Demokratien oder hehre Kunst.

Originell ist es aber selbst in den Erzählungen kaum. Ein ehemaliger Überflieger, der nun einen kleinen Supermarkt betreibt, weil ihm klar geworden ist, dass man auf Dauer nicht in Extremen (Erfolg, Stress, Reichtum) leben kann, erinnert an Heinrich Bölls Fischermärchen Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral.

Diese Geschichten sind von Melancholie und Einsamkeit getränkt, gleichzeitig offen für Romantik und Hoffnung. Man spürt einen Wunsch des Autors, uns das Menschsein in all seinen Dilemmata vor Augen zu führen. Sein Zeigefinger fuchtelt uns aber blöderweise ständig vor der Nase. Als Ergebnis wirken Figuren und Sachverhalte oft so überdeterminiert und exemplarisch wie Musterfälle aus dem Jus-Lehrbuch.

Und-dann-Erzählstruktur und laue Pointen

Dröger noch als die abgehobene Welt sind irgendwann in der raffinesselosen Und-dann-Erzählstruktur die lauen Pointen. Die kann man in der Geschichte über einen wegen seiner Bodenständigkeit beliebten Uhrenfabrikanten, dem die geheime Vorliebe, in Schwulenclubs fremde Männer zu fellieren, zum Verhängnis wird, besonders schlecht finden.

Über Literatur wie "Gebrauchskunst in Hotelzimmern" ließ der Autor sich zuletzt in der Süddeutschen Zeitung aus. Über solche stolpert man hier aber leider immer wieder. Im selben Interview ließ Schirach die Nähe der Geschichten zur eigenen Biografie anklingen. Großen Gesten nie abgeneigt, rührt manche Plattitüde in Nachmittage aber vielleicht auch von dieser Ergriffenheit. (Michael Wurmitzer, 15.9.2022)