Straße und Radweg liegen in Wien oft gefährlich nah beieinander, kritisieren Organisationen immer wieder.

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Wem gehört die Straße? Die Frage klingt zunächst etwas sonderbar. Gehört die Straße in der Stadt nicht jedem? Doch zwischen Stadtplanern, Bewohnerinnen und Klimaschützerinnen erhitzen sich bei dieser Frage regelmäßig die Gemüter. Wo die einen ein freundliches Miteinander auf der Straße wahrnehmen, sehen die anderen einen Kampf um die Vorherrschaft, der bereits seit langem zugunsten des Autos ausgefallen sei – nicht zuletzt auch in Wien.

Dafür finden Autogegner schnell Zahlen: Über 270.000 Menschen pendeln täglich vom Umland nach Wien, zwei Drittel davon fahren mit dem Auto. In der Stadt stehen zwei Drittel der Fläche im Straßenraum für den Autoverkehr zur Verfügung, rund ein Viertel der Gesamtfläche des Straßenraums sind Parkplätze für Pkws. Autos verbrauchen nicht nur viel Platz, während sie fahren oder herumstehen, sie treiben mit ihren Emissionen auch den Klimawandel voran, so die Kritik.

Die vorgeschlagene Alternative: eine autofreie Innenstadt. Das soll das Klima schützen, die Stadt lebenswerter und sicherer machen, mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer schaffen, die Luft verbessern und den Lärm reduzieren. Städte wie Amsterdam, Paris oder Ljubljana hätten es bereits vorgemacht, nun müsse auch Wien nachziehen, wünschen sich einige. Doch ließe sich eine autofreie Stadt überhaupt umsetzen?

Was "autofrei" bedeutet

Verkehrsexperten wie Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien, stören sich da schon ein wenig an dem Begriff. "Eine wirklich autofreie Stadt ist das Ziel von niemandem", sagte er im Rahmen einer Pressekonferenz des E-Bike-Start-ups Qwic zu dem Thema in Wien. Denn es brauche immer eine gewisse Anzahl von "Restautos" in einer Innenstadt, beispielsweise Lieferfahrzeuge oder Rettungswägen,.

Zumindest bei der "autoberuhigten Stadt" befinde sich Wien aber schon auf einem guten Weg. Die Hälfte der Wienerinnen und Wiener besitze kein Auto mehr. 90 Prozent können sich eine zukünftige Mobilität ohne privaten Pkw vorstellen. Das gehe aus Befragungen hervor, sagt Madreiter. Hinzu kommen Pläne der rot-pinken Stadtregierung, den Verkehr in der Innenstadt durch Videoüberwachung und Einfahrtsregeln zu reduzieren, neue Radwege zu bauen oder etwa die Zahl der Pendler, die mit dem Auto nach Wien kommen, bis 2030 zu halbieren.

Auto: Für viele ein Symbol für Freiheit

Denn auch wenn in Wien im Bundesländervergleich die wenigsten Menschen ein Auto besitzen, gebe es immer noch eine "relevante Gruppe", die nicht so schnell darauf verzichten wolle. "Das Auto ist für viele ein Symbol für Freiheit und Autonomie. Wenn wir dazu eine Alternative wollen, muss diese auch aus psychologischer Sicht attraktiv sein", sagt Madreiter. Das heißt etwa: mehr Menschen auch für das Radfahren als autonome Art der Fortbewegung zu begeistern. Dazu aber gleich das Eingeständnis: "Die Qualität der Radwege in Wien hält aktuell leider nicht mit der wachsenden Bevölkerung der Stadt mit."

Rund 1.200 Kilometer Radwege gibt es in Wien, in diesem Jahr sollen 17 weitere Kilometer dazukommen. Die Zahl klingt viel, doch die Länge an "echten Radwegen", also Radwegen, die eindeutig vom Autoverkehr getrennt sind, machen nur einen kleinen Teil dieser Strecken aus – noch weit weniger gebe es ganze Fahrradstraßen, kritisieren Organisationen wie die Radlobby Wien immer wieder. Die Realität bedeute oft: wenig Platz neben den Autos und damit die Gefahr von Unfällen, schmale Radstreifen, viele Lücken im Radnetz oder überhaupt gänzlich fehlende Radwege.

Vorbild Ljubljana?

Dass es auch anders geht, sehen Befürworterinnen einer rad- und fußgängerfreundlicheren Stadt nicht nur an Paradebeispielen wie Amsterdam oder Kopenhagen, sondern auch in Ljubljana. Bereits 2007 hat die Stadt den Autoverkehr in der Innenstadt gesperrt. Einige Jahre später wurde dann auch eine wichtige Verkehrsader der Innenstadt umgestaltet und nur noch für Fußgänger, Radfahrer und öffentliche Busse geöffnet.

Über viele Jahre hat Ljubljana die Autos aus der Innenstadt verdrängt.
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Vita Kontić Bezjak, ebenfalls Gast bei der Qwic-Pressekonferenz, deutet auf einige ausgedruckte Fotos, die Ljubljanas Innenstadt vor und nach der Umgestaltung zeigen. Graue Straßen mit Autokolonnen auf der einen Seite, Grünflächen, Bäume, Bänke, Fußgänger und Radfahrer auf der anderen Seite. Dass es sich bei den grauen und grünen Bildern um die ehemals gleichen Straßen und Plätze handelt, ist kaum mehr zu erkennen.

Menschen in Planung einbinden

"Es geht nicht nur darum, Verbote zu machen, sondern die Menschen in den Planungsprozess einzubinden", sagt Bezjak. So habe es etwa auch in Ljubljana Proteste vor der Umgestaltung der Straßen gegeben. Geschäftsbetreiber fürchteten um ihre Kundschaft, Autofahrer um fehlende Mobilität. "Noch dazu ist das Auto in Slowenien für viele noch immer ein wichtiges Statussymbol", sagt sie.

Die Stadt richtete deshalb mehrere Informationsschalter ein, organisierte Workshops und Diskussionen mit den Bewohnern und testete die Veränderungen schrittweise über mehrere Jahre. "Viele Geschäftsbetreiber haben gesehen: Wenn mehr Menschen zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, bleiben sie auch eher bei ihren Geschäften stehen", sagt Bezjak.

Insgesamt 17 Hektar, oder umgerechnet rund 20 Fußballfelder habe die Stadt seither in Fußgängerzonen verwandelt. "Niemand wünscht sich heute Autos zurück", sagt Bezjak. Sie glaubt, dass sich einige der Entwicklungen Ljubljanas möglicherweise auch auf andere Städte übertragen ließen.

Einige Hürden

Stadtplaner wie Thomas Madreiter sind da skeptischer. "Bei einer Zweimillionenstadt wie Wien ist manches komplexer", sagt er. Vieles könne eben nicht zu hundert Prozent so umgesetzt werden, wie man sich das vorstelle. Langwierige Verhandlungen um die Straßenverkehrsordnung (StVO), Streits mit Hotelbesitzern um Zufahrtsstraßen vor dem Bau von neuen Radwegen und ein Autoverkehr, der mit Dieselprivileg, Pendlerpauschale und steuerlichen Begünstigungen für Firmenwagen gefördert wird, erschweren die Umstellung.

Bis zur "autofreien" Innenstadt könnte es seiner Ansicht nach deshalb noch ungefähr zwanzig Jahre dauern – selbst wenn es rein technisch weit schneller ginge. Statt eines "100-Prozent-Ansatzes", bei dem Autos mit Verboten aus den Städten verdrängt werden, brauche es eine schrittweise Veränderung: eine bessere Anbindung an Züge für Pendler, Park-and-Ride-Anlagen, die möglichst nah an den Wohnorten der Pendler in Niederösterreich stehen, oder etwa niedrigere Tempolimits für Pkws. "Es macht einen Unterschied, ob Tempo 50 oder Tempo 30 die Richtgeschwindigkeit im Ortsgebiet ist", sagt Madreiter. Es könne dann immer noch einzelne Strecken geben, in denen Autofahrer schneller als 30 Stundenkilometer fahren dürfen. Aber Tempo 50 wäre dann nicht mehr die Norm.

Klimasünder Verkehr

Viele Klimaaktivistinnen bezweifeln jedoch, dass die Veränderungen in Wien schnell genug passieren, um gegen den Klimawandel anzukämpfen. "Die CO2-Emissionen sind in Österreich in fast allen Bereichen im Vergleich zu 1990 zurückgegangen. Nur im Verkehr sind sie immer weiter gestiegen", sagt Anna Kontriner, Sprecherin von "Lobau bleibt", im Pressegespräch. Als Bürgerin fühle sie sich von den Verkehrsplänen Wiens hintergangen.

Laut VCÖ hat Wien beim Verkehr im Bundesländervergleich zwar die niedrigsten CO2-Emissionen pro Kopf. Trotzdem sei der Verkehr mit 42 Prozent Anteil an den Emissionen der Stadt der größte Verursacher von CO2.

Die rot-pinke Stadtregierung will deshalb den CO2-Ausstoß pro Kopf bis 2030 um die Hälfte reduzieren. Gelingen soll das unter anderem mit dem Umstieg auf Elektroautos. Klimaaktivistinnen wie Kontriner dürfte das zum Teil sauer aufstoßen: Werden wir in Wien in Zukunft Autos durch Autos ersetzen? Die Vorherrschaft auf der Straße – sie würde letztlich weiter den Autos gehören, so die Befürchtung – selbst wenn sie künftig elektrisch fahren. (Jakob Pallinger, 16.9.2022)