Ursula von der Leyen hielt vor den EU-Abgeordneten ihre Rede – und stellte sich ihnen danach in einer Debatte.

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In den Reihen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg brandet Applaus auf, als sie aufgefordert werden, zwei jungen Frauen aus Polen Respekt zu zollen wegen deren Hilfe für geflüchtete Frauen und Kinder aus der Ukraine. "Magdalena und Agnieszka sind heute hier bei uns. Bitte applaudieren Sie mit mir den beiden sowie allen Europäerinnen und Europäern, die andere mit offenem Herz empfangen und bei sich aufgenommen haben", hat Ursula von der Leyen zuvor ins Plenum gerufen.

Die beiden Frauen freuen sich, lächeln etwas schüchtern. Wenn hunderte Mandatare laut klatschen, wirkt das im Plenum beeindruckend. Ihre Leistung war, dass sie kurz nach dem Beginn des Angriffs russischer Truppen auf die Ukraine Ende Februar in Polen im Blitztempo eine Hilfsaktion für Menschen organisierten, die über die Grenze flohen. Es gelang ihnen, binnen Tagen nicht weniger als 3.000 Freiwillige zu mobilisieren.

Die Kommissionspräsidentin am Rednerpult im Zentrum des riesigen Saales strahlt zu dieser Szene. Ihr war zum Schluss ihrer "Rede zur Lage der Europäischen Union", die sie jedes Jahr zum Auftakt des EU-Arbeitsjahres hält, ein letzter symbolischer Höhepunkt gelungen. Sie hatte die Polinnen extra eingeladen, so wie auch die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, der sie einen Ehrenplatz neben sich zuwies. Auch sie wurde von den Mandataren bejubelt, ganz am Anfang der programmatischen Ansprache.

Ukraine im Zentrum

An sich sind solche Reden nach US-Vorbild dazu da, die Arbeit, die Projekte von Kommission, Rat und Parlament zu definieren. Die Kommission legt offen und stellt zur Diskussion, was sie politisch und wirtschaftlich für nötig hält und was gesetzlich umgesetzt werden soll. Im September 2022 jedoch, das machte von der Leyen von der ersten Minute an klar, könne es nicht nur um einfache politische Vorhaben gehen. "Nie zuvor wurde in diesem Haus über die Lage der Union diskutiert, während auf europäischem Boden Krieg herrscht", sagte sie einleitend.

Schon da war klar, dass sie nicht nur routiniert die Erhöhung der Obergrenzen für Staatsschulden im Euroraum fordern würde; oder eine Lockerung der Wettbewerbsregeln, damit die Regierungen in den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum für Maßnahmen gegen die Inflation, für Sozialleistungen oder zur Ankurbelung der Wirtschaft bekommen, wie sie später ausführte. Die Präsidentin hatte sich entschieden, das Thema Ukraine, den Krieg, die Solidarität mit dem Land und seine prinzipielle Zugehörigkeit zur Union ins Zentrum zu rücken. Und sehr prinzipielle Dinge in Bezug darauf, wie die EU und ihre Staaten damit umgehen müssten, wenn Demokratie und Freiheit von einem Aggressor offen bedroht werden.

Nationalfarbe der Ukraine

Das war ihr bereits bei der Ankunft anzusehen: Von der Leyen trug eine Jacke in Gelb, eine Bluse in Blau, in den Nationalfarben der Ukraine. Die Kommissionspräsidentin betonte, wie wichtig es gewesen sei, dass die Union sofort nach Kriegsbeginn Einigkeit gefunden und Sanktionen gegen Russland ausgesprochen habe. Der russische Präsident Wladimir Putin habe "eine Spur des Todes und der Vernichtung" gezogen, "die Sanktionen werden bleiben". Bereits jetzt zeige das Wirkung, die russische Industrie sei in starkem Abwind. Die Militärindustrie müsse Chips aus Kühlschränken ausbauen, um sie bei der Herstellung von Waffen zu verwenden. Das und noch einiges mehr sei ein Hinweis darauf, dass die Gemeinschaft "mutig und stark" bleiben müsse: "Putin wird scheitern", erklärte von der Leyen, oft von Applaus unterbrochen.

In der Auseinandersetzung mit dem Kreml gehe es um die Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, um den Erhalt der europäischen Werte und des Rechtsstaats. "Die Demokratie wird siegen", rief sie in den Saal, "wir müssen uns der Aggression entgegenstellen."

Abhängigkeit beenden

Nach den sehr grundsätzlich ausgerichteten Erklärungen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zu Russland wandte sich die Kommissionschefin dem meistdiskutierten Thema seit Wochen, der Energiekrise, zu. Sie forderte, dass Energiekonzerne durch Abschöpfen von "Zufallsgewinnen" mit Milliardensummen an sozialen Hilfsmaßnahmen in den Mitgliedsländern beteiligt werden müssen. Solidarität sei das Gebot der Stunde, im Kleinen wie im Großen (siehe hier). Es müsse alles getan werden, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden und Energie verlässlich aus anderen Ländern der Welt zu beziehen. Das gelte auch für andere Stoffe wie Lithium und seltene Erden, die Europas digitale Industrie dringend brauche: für China. (Thomas Mayer, 15.9.2022)