"Wirksamer Antifaschismus", sagt Anton Pelinka, "beginnt mit Differenzierung." Dollfuß sei nicht gleich Hitler.

Foto: Rauscher

Anton Pelinka ist einer der bekanntesten Politikwissenschafter Österreichs. Nun hat er im Böhlau-Verlag ein neues Buch zum Thema Faschismus vorgelegt, mit historischer Dimension und aktuellen Bezügen.

STANDARD: Herr Professor, ist der Begriff Faschismus nicht schon genügend definiert?

Pelinka: Er ist überhaupt nicht klar definiert. Man hat zwei Optionen, die einander eigentlich widersprechen. Entweder man definiert eng, dann ist Faschismus das System Mussolini, oder man definiert weit, aber dann ist Faschismus jedes Unrechtssystem oder jede Diktatur. Dann ist Lenin eigentlich auch ein Faschist.

STANDARD: Dann ist aktuell Putin auch ein Faschist.

Pelinka: Putin und Trump sind die aktuellen Gefahren. Ich sehe Russland als ein halbfaschistisches System, die USA wären in Gefahr gewesen, wenn am 6. Jänner 2021 (Sturm auf das Kapitol, Anm.) die Demokratie nicht doch stark genug gewesen wäre. Dass Putin die russische Verfassung geändert hat, dass Trump versuchte, die friedliche Machtübergabe zu verhindern, das sind Warnsignale in Richtung Faschismus.

STANDARD: Faschismus hat immer etwas Quasireligiöses, ist immer auf einen Mann konzentriert, beschwört immer eine scheinbar bessere Vergangenheit, hasst Rationalität, Aufklärung, Menschenrechte. Sie sagen, dass Faschismus immer zur Zerstörung neigt, zur Zerstörung von anderen, aber vor allem zur Selbstzerstörung. Das liege daran, dass sich die Faschisten immer überschätzen und die Demokratien unterschätzen.

Pelinka: Für mich ist ein interessantes Beispiel, dass Mussolini über Roosevelt schreibt, den müsse man ja aufs Klo tragen. Der Macho Mussolini spielt auf die Kinderlähmung Roosevelts an. Aber der an den Rollstuhl gefesselte Roosevelt hat Mussolini – und Hitler – besiegt. Selbstzerstörung durch Selbstüberschätzung.

STANDARD: Faschismus ist vor allem auch Inszenierung.

Pelinka: Ich habe noch ein schönes Zitat gefunden: Nazismus ist Katholizismus ohne Christentum. Die Liturgie, die Show, die Inszenierung, der Totenkult, aber ohne Nächstenliebe. Und die Wirklichkeitsflucht.

STANDARD: Der "Wille" triumphiert über die Realität.

Pelinka: Das ist besonders stark bei Hitler, auch bei Mussolini.

STANDARD: Sehen wir nicht heute eine Entwicklung in Osteuropa zum Faschistoiden?

Pelinka: Ja und nein. Noch erleben wir ja, dass wir etwa in Polen einen Pluralismus haben. Ich würde sagen, die Gefahr ist da, aber solange wir sagen können, die Wahlen in Italien, Polen, auch in Ungarn sind zwar nicht unbedingt fair, aber frei – würde ich meinen: Faschismus mit Fragezeichen.

STANDARD: Das gilt ja alles auch fürRussland.

Pelinka: Ja, und es gibt im Gegensatz zu Ungarn den Gulag. Gulag 2.0. Es ist aber noch nicht Faschismus im engeren Sinn, es geht in Richtung Einparteiensystem usw. Aber eines ist symptomatisch: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wird von der Regierung bestimmt. Das Verbot von Memorial, Putins Geschichtsmythen.

STANDARD: Nach der Theorie, dass sich der Faschismus immer übernimmt, müsste man jetzt erwarten, dass sich Putin ohnehin soeben mit der Ukraine übernommen hat. Aber die Folgen sind unklar.

Pelinka: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Unterschied zu den Selbstüberschätzern Mussolini und Hitler einen Mann haben, der die zweitgrößte Atommacht der Welt hat. Aber das eigentliche Problem bei uns sind ja die Putin-Versteher. Das ist das Geschwätz derer, die München 1938 verschuldet haben. Die gedacht haben: "Frieden für unsere Zeit." Ein Jahr später war Krieg.

STANDARD: Sie schreiben, der konkrete Faschismus ist nicht ewig. Aber es finden sich immer wieder welche, die faschistisches Gedankengut super finden.

Pelinka: Es gibt so etwas wie eine Faschismusneigung. Und die ist nicht deutsch oder italienisch, sondern sozusagen universell. Ich habe ja versucht, den Faschismus und auch den Nazismus mit dem Holocaust zu entethnisieren. Es gibt die ganzen Beispiele von pogromartiger Unterstützung des Holocaust im Baltikum und in Polen, es gibt das kroatische Vernichtungslager Jasenovac. Der Faschismus und speziell der Holocaust sind nicht deutsch, sondern menschlich. Hannah Ahrendt hat Eichmann nicht als Durchschnittsdeutschen erklärt, sondern als Durchschnittsmenschen.

STANDARD: Allerdings: Was den Nationalsozialismus vom Faschismus unterscheidet, ist dieser unbedingte Vernichtungswille als Selbstzweck. Alle Juden (und Roma) sollen ohne Ausnahme umgebracht werden. Im Unterschied zu den Indianern oder Armeniern.

Pelinka: Ja, ethnische Säuberung ist nicht Genozid. Die Ausrottung war nicht das Prinzip der spanischen oder der angelsächsischen Siedler in Amerika.

STANDARD: Ausrottung war aber ein deutsches Prinzip, oder?

Pelinka: Ein nationalsozialistisches. Für diese Neigung in der deutschen Kultur, in der deutschen Mentalität die Wurzeln zu suchen halte ich für einen Irrweg.

STANDARD: Sie schreiben von einem banalen Antifaschismus. Was wäre ein wirksamer Antifaschismus?

Pelinka: Es ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man einen demokratischen Rechtsstaat lebt, dass man antifaschistisch ist, was denn sonst? Wirksamer Antifaschismus beginnt mit Differenzierung. Dollfuß ist nicht Hitler. Aber man muss vor allem klarmachen: Faschismus ist der große Verlierer des 20. Jahrhunderts. Danach war der zweite große Verlierer der Marxismus-Leninismus. Wer ist der große Sieger des 20. Jahrhunderts? Die Demokratie. (Hans Rauscher, 16.9.2022)