"Ich habe das Gefühl, als würden wir gerade einen Zug verpassen": In Israel sah Gesundheitsminister Johannes Rauch manches, was hierzulande nach Utopie klingt.

Foto: Gerald John

Es gibt Momente, die einen Minister Demut lehren. Johannes Rauch sitzt im 17. Stock eines der vielen Bürotürme, die in Tel Aviv wie die Schwammerln aus dem Boden schießen. In der Ferne glitzert verführerisch das Meer, doch der Minister hat nur Augen für die Herren auf der anderen Seite des Konferenztisches. Von futuristisch anmutenden Operationsmethoden und grenzenlosem Forschergeist berichten die Gastgeber, vieles davon klingt in den Besucherohren nach Utopie. Am Ende sagt Rauch: "Ich habe das Gefühl, als würden wir gerade einen Zug verpassen."

Österreich verfügt über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt: Dieses Selbstbild genoss jahrzehntelange Pflege. Doch Rauch, in der Regierung seit einem halben Jahr für Gesundheit und Soziales zuständig, lässt es darauf ankommen, sich eines Besseren belehren zu lassen. Gefahren ist der Grünen-Politiker dafür nach Israel, das nicht erst dank der beeindruckend rasch angelaufenen Covid-Impfungen den Ruf des Vorreiters genießt. Schon vor Ausbruch der Pandemie landete der Neun-Millionen-Einwohner-Staat im Nahen Osten in globalen Vergleichscharts im Spitzenfeld.

Weniger Ärzte, mehr Technologie

Dabei stecke Israel nicht übermäßig Ressourcen ins System, erklärt Daniella Cohen, Leiterin der Abteilung für Familienmedizin des Maccabi Health Care Center, einer von vier Krankenkassen im Land. Ob Ausgaben für die Gesundheitsversorgung oder Zahl der Ärzte pro Kopf: Israel bleibt hinter dem Durchschnitt der OECD-Staaten zurück, das gilt erst recht im Vergleich zu Österreich. Um trotzdem Spitzenleistungen zu bieten, sagt Cohen, habe sich die Nation vor allem einem Rezept verschrieben: Technologie.

Das beginnt bei diversen Handy-Apps, um Patienten das Leben zu erleichtern. Über eine der von Maccabi entwickelten Anwendungen lassen sich unkompliziert Befunde einsehen, Termine vereinbaren, Rezepte samt Anwendungsanleitung aufrufen und Ärzte kontaktieren. Eine andere funktioniert wie eine Art Uber für Kranke und Verletzte. Statt stundenlang in einer Notaufnahme warten zu müssen, sollen die Betroffenen gezielt zu jenen Spezialisten dirigiert werden, die Kapazitäten frei haben, sagt Cohen. Vom Aufruf bis zur Behandlung dauere es im Schnitt nicht mehr als eine Stunde, zehn Minuten.

Großer Schatz an Daten

Auch die Mediziner schöpfen per Tastendruck aus dem Vollen. Ob Krankheiten und Allergien, Laborwerte und Diagnosen, Arztbesuche und Behandlungen bis hin zum Sozialarbeiterkontakt: Die bereits seit 20 Jahren existierende elektronische Gesundheitsakte bietet dank vielfältiger Datensammlung nicht nur ein kompletteres Bild von den Versicherten als das österreichische Pendant Elga. Das System geht auch über die Funktion eines elektronischen Buches, in dem sich der behandelnde Arzt mühsam Informationen zusammensuchen muss, hinaus. Per Algorithmus werden aus den Daten relevante Erkenntnisse herausgefiltert – etwa ob Krankheitsrisiken vorliegen. So kann Prävention früh greifen.

Weil ärztliche Arbeit gerne als eine Art Kunst missverstanden werde, kämen künstliche Intelligenz und andere technologische Innovationen immer noch zu kurz, sagt Ronni Gamzu, bekannt geworden als erster "Corona-Zar" Israels. Einst das Gesicht des nationalen Anti-Covid-Programms, leitet der Arzt nun wieder das Tel Aviv Sourasky Medical Center, das zweitgrößte Krankenhaus des Landes– und gibt sich mit dem Status quo kein bisschen zufrieden: "Die Pandemie hat gezeigt, dass wir nicht auf der Höhe sind."

Damit sich das ändert, hat die Spitalsführung am Rande des 1500-Betten-Komplexes in luftiger Höhe eine Denkfabrik eingerichtet. Nicht nur die Kapazunder der Institution – von der Ärztin über den Techniker bis zur Krankenpflegerin – sollen hier über Ideen brüten, auch private Start-ups docken an. Die Räume für die Kopfarbeit bieten wenig Platz – aber dafür eine großzügige Aussicht. Der Blick aufs offene Meer öffne den Geist, erfahren die Besucher zur Begrüßung.

Berührungsängste ablegen

Einblicke bietet hingegen ein Rundgang durch den Hub. Zwei Forscher testen gerade eine App für eine Smartwatch, die Migräneattacken voraussagen soll – inklusive der zu erwartenden Stärke. In einem anderen Raum flimmern Besucherfrequenz, Belegschaftszahlen und andere Daten über ein blitzblaues Display. Tausende Minuten an unnötigen Verzögerungen ließen sich einsparen, wenn der Spitalsalltag durch ein smartes Leitsystem organisiert werde.

Vorgeführt bekommt der fremde Minister, wie komplizierte Operationen per Augmented-Reality-Maske erst simuliert und dann punktgenau nach Plan durchgeführt werden. Nicht minder beeindruckt die Demonstration neuer Methoden, wie bei Knochenkrebs in naher Zukunft möglichst viel der natürlichen Substanz gerettet werden soll.

Welchen Rat die Österreicher mit nach Hause nehmen? Um bei Innovationen voranzukommen, dürfe niemand starr an alten Grundsätzen kleben, mahnt Direktor Gamzu: So sollten staatliche Spitäler alle Berührungsängste zur finanzstarken Industrie ablegen. Ebenso essenziell sei eine Strategie der offenen Daten.

Den Blindflug beenden

Nicht bei allem will Rauch vorbehaltlos mit. Man müsse gegenüber der Pharmaindustrie schon auch Vorsicht walten lassen, sagt der Minister – schließlich dürfe nicht allein das kommerzielle Interesse die Forschung dirigieren. Auszuloten gelte es die Möglichkeiten einer engeren Kooperation aber allemal.

Was es mit Sicherheit brauche, sei ein offenerer Umgang mit den Daten. So sehr die Anonymität der Patienten zu schützen sei: Die fehlende Verknüpfung wichtiger Gesundheitsdaten – manche Experten sprachen von einem "Blindflug" – habe in der Pandemie große Probleme bereitet.

Vor allem aber will Rauch die Mentalität importieren, die ihn so tief beeindruckt hat. Mit viel "Zug nach vorne", ohne große Rücksicht auf Hierarchien, werde da an Verbesserungen für die Patienten gearbeitet – auch auf die Gefahr hin, zu scheitern. In Österreich hingegen höre man oft als Erstes, was alles nicht gehe. "Wir geben uns zu oft mit der Verwaltung des Ist-Zustands zufrieden", sagt Rauch. "Es fehlen Wille und Entschlossenheit."

Drohendes Scheitern

Woran das liege? Da landet Rauch bei der berüchtigt komplizierten Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung: "Das Grundübel im Gesundheitssystem ist, dass die Finanzierungsgräben dermaßen scharf bewacht werden." Wenn schon eine echte Staatsreform ein Wunschtraum bleiben werde, so wolle er die Kompetenzen zumindest so weit bereinigen, dass Bund und Länder nicht mehr für Aufgaben gleichzeitig zuständig sind. "Doch ich weiß", sagt Rauch, "die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist riesig."

Keinen Anlass zur Kopie erkennt Rauch in der Corona-Politik – zumal er Österreich ohnehin schon auf Linie mit Israel sieht. Bei der Regionaltagung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Tel Aviv, ein anderer Grund seiner Reise, traf sich der Minister mit Amtskollege Nitzan Horowitz. Auch die israelische Regierung plane keinen restriktiveren Corona-Maßnahmen als er, berichtet Rauch: "Ich habe überprüft, ob ich auf dem Holzweg bin – und fühle mich in meinem Kurs bestätigt." (Gerald John aus Tel Aviv, 16.9.2022)

Die Reise erfolgte auf Einladung des Gesundheitsministeriums.