Vom Alpeiner Ferner ist immer weniger zu sehen.

Foto: Julia Beirer

Hüttenwirt Thomas Fankhauser erkennt die Klimaerwärmung täglich an zwei Merkmalen. Er blickt auf den Gletscher, der so klein ist wie noch nie, und in sein Gästebuch, das so leer ist wie noch nie. Während der Alpeiner Ferner – ein Gletscher direkt vor seiner Franz-Senn-Hütte in den Stubaier Alpen – in den vergangenen zehn Jahren mehrere Hundert Meter zurückgeschmolzen sei, blieben die Gäste erst seit diesem Sommer aus. Konkret seit dem 22. Juli.

In dieser Nacht findet sich Thomas Fankhauser in einer prekären Situation wieder. Draußen prasselt ein Unwetter auf die Berge nieder. Die Regengüsse bahnen sich ihren Weg über den Alpeiner Boden – zwischen Alpeiner Ferner und Franz-Senn-Hütte – ins Tal. Dabei verwandeln sie den Alpeiner Bach in einen reißenden Fluss. Die Wassermassen verlassen in höheren Lagen das Bachbett.

Menschen wurden evakuiert

Ein derartiges Unwetter hat Fankhauser, der auf der Franz-Senn-Hütte aufgewachsen ist, noch nie erlebt. Er fürchtet, dass die Wucht des Wassers die Brücke neben der Hütte mit sich reißt und dadurch die Wasserleitung kappt. Also stellt er sich hinter die Schank im Gastraum, dreht den Wasserhahn auf und füllt es in Flaschen ab. "Sodass wir zumindest über Nacht etwas zu trinken haben", sagt Fankhauser. Das Haus zählt insgesamt 170 Schlafplätze, 90 davon sind in der Nacht vom 22. Juli belegt.

Am nächsten Tag beschließen die Behörden kurzerhand, die Menschen zu evakuieren. "Zu Fuß rauszukommen war keine Option", sagt Fankhauser. Er hatte Glück, das Unwetter hat weder Haus noch Leitungen beschädigt. Zurück bleiben ein Schock und die wirtschaftlichen Folgen für den Hüttenwirt.

Die Franz-Senn-Hütte blieb vom Unwetter verschont. Gäste bleiben trotzdem aus.
Foto: Julia Beirer

Geschäft bricht ein

Die Wassermassen haben den Zufahrtsweg zum Parkplatz, von dem aus die eineinhalbstündige Wanderung zur Franz-Senn-Hütte beginnt, im wahrsten Sinn des Wortes verlegt. Die Straße ist seither gesperrt; die Schranken passieren darf nur, wer eine Sondergenehmigung hat. Das gilt für den Transporter des Lebensmittellieferanten Wedl, der sich den Weg über die provisorische Straße durch meterhohe Schotterhaufen bahnt, vorbei an ausgerissenen Bäumen und weggeschwemmten Sträuchern.

Privatautos können das nicht. Für Fankhauser ist dies eine Katastrophe: Das so wichtige Geschäft mit Tagesausflüglern ist um 85 Prozent zurückgegangen. Der Wirt konnte die fehlenden Einnahmen mit Übernachtungen zwar abfedern, verbucht aber trotzdem ein Minus zwischen 20 und 30 Prozent. Vor Saisonende am 3. Oktober wird die Straße laut Fankhauser nicht mehr geöffnet. Bis dahin bleiben wohl weiterhin viele Familien aus.

Geringe Gletscherfläche

Wer im nächsten Jahr wieder zu der auf 2147 Metern liegenden Hütte wandert, wird eventuell noch weniger vom Alpeiner Ferner sehen. Die Gletscherflächen werden kleiner, sagt Fankhauser. Gerade im Laufe des heurigen Sommers habe der ohnehin schon beschleunigte Prozess zu galoppieren begonnen.

Ein Vorgang, den auch seine 72-jährige Mutter, Klara Fankhauser, mit Bedauern beobachtet. Sie sitzt auf der Terrasse und schaut in Richtung Gletscher. Zu sehen ist er kaum noch. Sie war selbst viele Jahre Wirtin auf der Franz-Senn-Hütte. Der Alpeiner Ferner sei immer ein besonderer Ort für sie gewesen.

Der Alpeiner Bach hat die Grasnarbe während des Unwetters überschritten.
Foto: Julia Beirer

Stärkere Niederschläge

Umso trauriger sei dessen Verschwinden. Neben dem Blick, der sich stets in dessen Richtung bewegte, habe sie auch viele Skitouren hinauf gemacht. Die letzte vor rund drei Jahren. Wo früher Schnee gelegen sei, wurzeln nun Blumen im Boden, erzählt sie. Dass sie nichts dagegen tun kann, schmerzt. "Gletscher können wir nicht gießen, und wir können ihnen auch nichts stricken."

Dass die Regenmassen am 22. Juli derart rasant abgeflossen sind, hat laut Thomas Fankhauser zwei Gründe. "Die Niederschläge werden stärker." Das beobachte er bereits seit gut zehn Jahren. Andererseits könne der zusammengeschmolzene Alpeiner Ferner Wassermassen nicht mehr zurückhalten.

Weniger Schnee vom Vorjahr

Denn auf Gletschern liege in den höheren Regionen normalerweise auch im Sommer eine Altschneeauflage, sogenannter Firn. Dieser Schnee vom Vorjahr habe im Gegensatz zu hartem Gletschereis gewisse Kapazitäten, Wasser aus Niederschlägen zu speichern und verzögert abzugeben, erklärt Fankhauser.

Aufgrund des schneearmen Winters und des heißen Sommers sei der Alpeiner Ferner diesen Sommer nicht mit Firn bedeckt gewesen. Die vergletscherten Flächen konnten das Wasser also nicht zurückhalten und die Regenmengen bergabwärts schießen.

Schotter statt Wiese

Seither ist der Alpeiner Boden großflächig von einem Schotterbecken statt einer Wiese überzogen. Grashalme kleben in Flussrichtung auf der Erde, und der Höllenrachen, ein Klettersteig inmitten des Alpeiner Bodens, ist eingestürzt. Dessen Felsbrocken liegen zusammengekauert auf einem Haufen, ein Seil bietet Hilfe bei der Querung. Darunter strömt der Alpeiner Bach auch Wochen nach dem Unwetter in schnellem Tempo talabwärts. "Unglaublich, was so ein kleines Bachl anrichten kann", sagt Walter Zörer, Präsident des Verbands der Österreichischen Ski- und Bergführer. Auch er kennt die Gegend gut. Während er die Reste des Höllenrachens überquert, blickt er für einige Minuten in ein Loch.

Walter Zörer überquert die Reste des Höllenrachens.
Foto: Julia Beirer

Vor einigen Wochen hat sich an dieser Stelle eine Schlucht über dem Alpeiner Bach ausgebreitet. Besucherinnen und Besucher konnten sich früher in der Franz-Senn-Hütte Kletterausrüstung für den familienfreundlichen Klettersteig ausleihen. Nun warnen zwei Schriebe mit schwarzen Totenköpfen und der Aufschrift "Lebensgefahr" auf der Pinnwand vor dem Durchklettern des Höllenrachens.

Gras statt Gletscher

Dass derartige Unwetterereignisse – wenn auch in abgeschwächter Form – in Zukunft häufiger auftreten werden, davon ist Fankhauser überzeugt. Gletscher verlieren an Fläche, und im unvergletscherten Bereich bleibe der Firn bei weitem nicht so lange liegen. Über steiniges Gelände rinne Wasser ebenfalls aggressiv nach unten. "Der Wasserpegel steigt und fällt dann nicht sanft, sondern unmittelbar und mit voller Wucht."

Veränderungen in den Bergen bemerkt auch Zörer. Fakt sei jedenfalls, dass es wärmer werde. "Heuer wird es wieder starke Rückgänge geben, und Gletscher werden meterweise wegschmelzen." Auch der Weg vom Tal zur Franz-Senn-Hütte sei vor langer Zeit vergletschert gewesen. Davon zeugen Gletscherschliffplatten aus Granit, auf die Zörer mit einem Wanderstecken klopft. Heute verschlingt Gras statt Gletscher langsam den Stein.

In höheren Gebieten bilden sich generell neue apere Stellen, gewisse Zonen brechen ab, und die Topografie verändert sich, sagt Zörer. "Darauf müssen wir eingehen. Wir können nicht mehr weiterspazieren wie früher." Beunruhigen würde ihn das nicht mehr, das habe er sich abgewöhnt. "Wir werden uns aber anpassen müssen, so weit möglich gegensteuern und die Entwicklung bremsen."

Währenddessen bleibt Thomas Fankhauser nichts anderes übrig, als dem Alpeiner Ferner beim Schmelzen zuzusehen. (Julia Beirer, 20.9.2022)