Die Suche nach weiteren Toten läuft.

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Kiew – In den von der ukrainischen Armee zurückeroberten Gebieten im Nordosten des Landes mehren sich die Hinweise auf Kriegsverbrechen russischer Besatzer. In einem Massengrab in der Stadt Isjum seien Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen gefunden worden, teilte der Gouverneur der Region Charkiw, Oleh Synjehubow, am Freitag mit. "Nach unseren Informationen weisen alle Bestatteten Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte Reuters, es seien an mehreren Stellen ganze Familien und Menschen mit Folterspuren verscharrt worden. Es gebe Hinweise auf von russischen Soldaten verübte Kriegsverbrechen. Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, nannte am Freitag eine Zahl von mehr als 1000 Menschen, die in den russisch besetzten Gebieten der Region Charkiw gefoltert und getötet worden seien.

Überwiegend zivile Opfer

Bei den über 440 Leichen in dem Massengrab in Isjum handelt es sich nach Angaben von Polizeichef Ihor Klymenko überwiegend um Zivilisten. Die menschlichen Überreste würden exhumiert. Der Chef der Ermittlungsbehörde der Polizei im Gebiet Charkiw, Serhij Bolwynow sagte zu Sky News: "Ich kann sagen, dass es sich um eine der größten Begräbnisstätten in den befreiten Gebieten handelt." Er kündigte an, alle Leichen forensisch untersuchen zu lassen. "Einige starben durch Artilleriebeschuss, andere starben durch Luftangriffe."

Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (Uno) will Beobachter nach Isjum senden. "Sie wollen sich dorthin begeben, um mehr darüber herauszufinden, was passiert sein könnte", sagte Sprecherin Liz Throssell in Genf.

Augenzeugen zufolge wurden in Isjum zudem rund 200 Holzkreuze entdeckt, die auf ein zweites Massengrab hindeuten könnten. Tausende russische Soldaten sind wegen der ukrainischen Offensive am vergangenen Wochenende aus der Stadt geflohen.

Selenskyj: "Russland hinterlässt überall Tod"

Selenskyj verglich die Entdeckung des Massengrabs mit den Ereignissen im Februar in Butscha, einem Vorort der Hauptstadt Kiew. Ukrainischen Soldaten hatten dort nach dem Abzug russischer Truppen handfeste Hinweise auf Kriegsverbrechen gefunden. "Russland hinterlässt überall den Tod und muss dafür verantwortlich gemacht werden", sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.

"Monatelang herrschten in den besetzten Gebieten Terror, Gewalt, Folter und Massenmorde", twitterte Selenskyj-Berater Mychajlo Podoljak zu Fotos eines Waldes, in dem zahlreiche Holzkreuze in frischem schlammigem Boden standen. Eine riesige Grube war mit rot-weißem Tatortband markiert. "Will noch jemand 'den Krieg einfrieren', anstatt Panzer zu schicken? Wir haben kein Recht, die Menschen mit dem Bösen allein zu lassen", schrieb Podoljak.

Am Freitag sollen Journalistinnen und Journalisten zu dem Massengrab gebracht werden. "Wir wollen, dass die Welt erfährt, was wirklich passiert und wozu die russische Okkupation geführt hat", sagte Selenskyj.

Unterdessen läuft die Suche nach weiteren Leichen. Sie werde durch Minen erschwert, sagte der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko der Agentur Unian. Dennoch werde jede Anstrengung unternommen – auch um die Leichen gefallener Soldaten ihren Familien übergeben zu können: "Wir setzen die Arbeit fort (...), damit die Familien die Soldaten, die für die Ukraine gestorben sind, so schnell wie möglich angemessen ehren können", erklärte Kotenko.

Polizeichef Klymenko zufolge sind in der vergangenen Woche auch in der Region Charkiw bisher etwa 50 tote Zivilisten gefunden worden. Zudem sollen sieben Studenten aus Sri Lanka in der Stadt Wowtschansk nahe der russischen Grenze eingesperrt und gefoltert worden sein. Er sagte, ihre Fingernägel seien mit einer Zange herausgezogen worden. Reuters konnte den Bericht nicht unabhängig überprüfen.

USA: "Abscheulich"

Die US-Regierung hat die Leichenfunde in Isjum als "abscheulich" bezeichnet. "Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. "Es ist absolut verdorben und brutal."

Es werde immer offensichtlicher, wozu der russische Präsident Wladimir Putin und seine Soldaten fähig seien, sagte er. Die US-Regierung werde weiterhin die Bemühungen unterstützen, russische Kriegsverbrechen und Gräueltaten zu dokumentieren, um schließlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.

Das österreichische Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion am Freitag "tief erschüttert über die jüngsten Berichte von #Massengräbern in #Isjum". Die Täter müssten zur Verantwortung gezogen werden, twitterte das Außenamt.

Putin will weiterhin Donbass "befreien"

Putin erwähnte die Berichte beim Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan indes mit keinem Wort, sondern gab sich trotz der jüngsten Niederlagen seiner Armee betont gelassen. Man übernehme allmählich die Kontrolle über das ukrainische Gebiet, erklärte er. Das wichtigste Ziel Russlands bleibe unverändert: Die ganze Donbass-Region zu "befreien".

Er verwies darauf, dass die Regierung in Kiew eine Offensive angekündigt habe. "Lasst uns sehen, wie das endet." Er räumte ein, Russland habe Rückschläge einstecken müssen und warnte, wenn sich diese Entwicklung fortsetze, würden die Reaktionen darauf "ernster" ausfallen.

Putin kündigte weitere Angriffe auf ostukrainische Gebiete an. "Unsere Offensivoperationen im Donbass werden nicht ausgesetzt, sie gehen in geringem Tempo voran."

Stoltenberg: Müssen auf langen Krieg vorbereitet sein

Nach einer Woche mit schnellen Fortschritten im Nordosten haben ukrainische Offizielle die Erwartungen zu dämpfen versucht, dass sie weiterhin in diesem Tempo vorrücken könnten. Russische Truppen, die aus der Region Charkiw geflohen sind, sollen sich nun verschanzt haben und planen, Gebiete in den Nachbarprovinzen Luhansk und Donezk zu verteidigen. "Es ist natürlich äußerst ermutigend zu sehen, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage waren, Territorium zurückzuerobern und auch hinter die russischen Linien zu stoßen", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg der BBC. "Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass dies noch nicht der Anfang vom Ende des Krieges ist. Wir müssen auf einen langen Zeitraum vorbereitet sein."

Die Ukraine meldete zuletzt neue russische Angriffe auf Charkiw und die Umgebung der Stadt im Osten der Ukraine. Auch die weiter nördlich, ebenfalls an der Grenze zu Russland gelegene Region Sumy wurde örtlichen Behörden zufolge beschossen. Mehr als 90 Raketen und Artilleriegeschosse seien gezählt worden, erklärt der Gouverneur von Sumy, Dmytro Schywyzkyj.

Der Ukraine selbst soll ein Schlag gegen die selbsternannte Volksrepublik Luhansk gelungen sein. Deren Generalstaatsanwalt Sergej Gorenko und dessen Stellvertreter wurden einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax zufolge bei einer Bombenexplosion in seinem Büro getötet. Von Russland unterstützte Separatisten in der südukrainischen Stadt Cherson wiederum berichteten von Angriffen durch ukrainische Streitkräfte auf Regierungsgebäude. Dabei seien mindestens eine Person getötet und weitere verletzt worden. (APA, red, 16.9.2022)