Als das Philosophicum Lech im Spätsommer 1997 zum ersten Mal stattfand, war der Andrang noch bescheiden. Das Publikum fand im Café eines Hotels Platz. Gar nicht bescheiden aber waren die Themen schon der ersten drei Veranstaltungen: "Faszination des Bösen", "Im Rausch der Sinne" und "Die Furie des Verschwindens". Bald wurde klar, dass es hier um mehr ging als um akademische Spitzfindigkeiten. Und als danach – ein Jahr vor 9/11 und dem Afghanistan-Krieg – "Der Vater aller Dinge: Nachdenken über den Krieg" verhandelt wurde, begannen Feuilletons auch in Deutschland und der Schweiz das Symposium am Arlberg wahrzunehmen.

Zuhörer und Diskussionsteilnehmerinnen reisten bereits von weit her an und füllten immer größere Säle. Was als Idee begann, die der damalige Bürgermeister Ludwig Muxel mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier ausgebrütet hatte und wofür sie den Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann als inhaltlich Verantwortlichen gewonnen hatten, war zu einem Fixpunkt im Kalender, immer gegen Ende September, geworden.

Seit 25 Jahren in Lech: philosophischer Geist.
Foto: Mia Eidlhuber

Der Sinn von allem

Leichte Kost ist es nie, das Publikum wird durchaus gefordert. Es kommen nicht nur Philosophinnen und Philosophen zu Wort, auch Vortragende, die in der Ökonomie bewandert sind, in Sozial-, Geistes- oder Kulturwissenschaften, in Juristerei und Medizin, Kunst oder Theologie, erörtern große Themen unserer Zeit aus ihrer jeweiligen Perspektive.

Eine sehr gute Quersumme von all dem präsentiert nun ein Sammelband zum 25-jährigen Jubiläum. Pro Jahr ein Vortrag, das war die Idee. Insgesamt spiegeln die Beiträge wider, was Herausgeber Liessmann den "thematischen Bogen über die ‚Abgründe des Menschlichen‘" nennt, den die Tagungen halb bewusst und halb intuitiv gespannt haben und ohne den die Philosophie ihren Namen nicht verdient.

Gleich zweimal stellt sich mehr oder weniger direkt die fundamentale Frage nach dem Sinn "von allem". 2011 – "Die Jagd nach dem Glück" war das Thema – hinterfragt der emeritierte Philosoph Wilhelm Schmid das Ziel dieser Jagd: was denn Glück eigentlich sei, ob Zufall, Wohlgefühl oder Kunst der Balance. Letzteres, meint er, sei wiederzuentdecken, gerade in einer Zeit, in der der "Glücksdiskurs" asozial geworden sei. Gerade dort nämlich, wo kein Zusammenhang mehr zu finden sei, werde die Sinnfrage relevant. Schmid postuliert eine "andere Moderne", schon aus Gründen des Überlebens müsse eine zielgerichtete Sinnstiftung unternommen werden.

Das Leben lebbar machen

Derselben Fragestellung nähert sich der Ägyptologe und Kulturwissenschafter Jan Assmann ein Jahrzehnt später von ganz anderer Seite, "Die Kraft der Fiktion" war das Thema: Wir schaffen uns "Sinnfiktionen", um unser Leben lebbar zu machen. Historisch gesehen hätten das vor allem die Religionen geliefert und Unverständliches wie Blitz und Donner, Leben und Tod "in fragloser Evidenz" erfahrbar gemacht. Zivile Gesellschaften hingegen, so Assmann, brauchen Götter in Form von Gesetzgebern, Heroen oder Königen, damit Moral und Gesetze respektiert werden. Der Staat aber müsse funktionieren – und das kommt als überraschender Verweis auf den Apostel Paulus –, als ob es Gott nicht gäbe.

Mit trügerisch leichter Hand nähert sich der Schriftsteller und Essayist Franz Schuh dem Thema des Symposiums über "Die Freiheit des Denkens". "Medienfromm, wie ich bin", setzt er an, um dann vorzuführen, dass er es durchaus nicht ist, vielmehr im Gegenteil scharfsichtig das Komische als Grundlage der Meinungsfreiheit erkennt, nämlich in dem Unsinn, den die einmal erkämpfte Freiheit nun ermöglicht.

Es ist erstaunlich, wie aktuell dieser und weitere Beiträge geblieben sind, wenn sie nicht sogar gewonnen haben, von Rudolf Burger etwa, dem im vergangenen Jahr verstorbenen Philosophen, über "Die Heuchelei in der Kunst" (und über die Kunst als "Residualtranszendenz für höhere Töchter beiderlei Geschlechts", das konnte er 1998 noch schreiben, ohne einen Shitstorm zu provozieren); oder von der Kulturwissenschafterin Karin Harasser über Cyborgs, Superhumans und andere Visionen von "Körpern im Futur II".

Konrad Paul Liessmann (Hg.)
"Der Geist im Gebirge. 25 Jahre Philosophicum Lech"
€ 28,80 / 320 Seiten
Zsolnay, Wien 2022

Die Philosophica in Lech, schreibt Liessmann, stehen für Denken in luftigen Höhen, wie es schon Nietzsche im Oberengadin gepflegt hat (in geografischer Nachbarschaft übrigens zu Adorno, dessen Denkschule allerdings, wie auch die der Logischen Positivisten, in Lech so gut wie nie zitiert wird).

Der Geist im Gebirge, so der Buchtitel, soll sich auch und gerade dem widmen, was man nicht sehen will. Zeitgemäß soll der Sammelband sein, aber nicht zeitgeistig. Liessmanns Beitrag ist zugleich seine Einführung in das diesjährige, 25. Symposium, und das hat – zeitgemäß – den Hass zum Thema. Er schließt mit den Worten: "Wir werden mit dem Bösen und dem Hass leben müssen. Und wir können uns schon glücklich schätzen, wenn wir uns dabei nicht gleich die Hölle auf Erden bereiten." (Michael Freund, 18.9.2022)