ÖVP-Chef Karl Nehammer hat Arbeit vor sich: Die jüngsten Turbulenzen verdeutlichen, wie nötig eine innerparteiliche Aufarbeitung wäre.

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Er sei "überzeugt, dass Laura Sachslehner alle bevorstehenden Aufgaben im besten Interesse der Volkspartei und ihrer Teilorganisationen sowie Mitglieder hervorragend bewältigen wird", tönte der damals frisch als Parteichef der Volkspartei bestimmte Karl Nehammer im Dezember 2021 über seine Generalsekretärin.

Nicht einmal ein Jahr später ist Sachslehner zum Symbol für den innerparteilichen Widerstand gegen Nehammer geworden. Die Parteispitze verrate die Werte der ÖVP, verbiege sich und biedere sich an den Koalitionspartner an, klagte Sachslehner öffentlichkeitswirksam bei ihrem Rücktritt vor einer Woche – und erhielt dafür einigen Applaus aus ihrer ÖVP Wien.

Spätestens seit diesem Moment ist offensichtlich, dass innerhalb der ÖVP ein veritabler Richtungsstreit tobt. Die Fronten sind allerdings nicht ganz klar, es gibt jedenfalls mehr als zwei Fraktionen.

Das Team Nehammer

Da wäre zunächst das Team rund um Karl Nehammer. Im Umfeld des Kanzlers will man vor allem eines: in Ruhe regieren. Dort hofft man, dass sich bis zur nächsten Nationalratswahl im Herbst 2024 die Lage der ÖVP stabilisiert hat. Die Wirtschaftsberater des Kanzlers sollen prognostiziert haben, dass spätestens im Sommer 2023 eine wirtschaftliche Erholung einsetzt. Nehammer könnte sich bis dahin als Krisenmanager profilieren und dann den wirtschaftlichen Aufschwung nutzen und als Ergebnis der Regierungsarbeit vermarkten, hofft man im Kanzleramt.

Ex-Generalsekretärin Laura Sachslehner erledige die Arbeit der Opposition, hieß es hinter vorgehaltener Hand aus dem Kanzleramt.
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Bis dahin soll der Bevölkerung bewiesen werden, dass man niemanden im Stich lasse. Deshalb war es für das Team Nehammer so ärgerlich, dass Sachslehner ausgerechnet den erhöhten Klimabonus in ein negatives Licht rückte, indem sie ausschließlich die Auszahlung an Asylwerbende thematisierte. Sie erledige die Arbeit der Opposition, hieß es hinter vorgehaltener Hand aus dem Kanzleramt: "Wie blöd kann man sein?"

Die Kurzianer in Wien

Diese Frage richtet wiederum die zweite Gruppe, die sogenannten Kurzianer – also Anhänger von Ex-Kanzler Sebastian Kurz –, an den Ballhausplatz. Dort ist Sachslehner einzuordnen, das Thema Asyl und Migration wird in diesem Kreis als Flanke gesehen, die unbedingt vor der FPÖ und Herbert Kickl beschützt werden müsse.

Neben der Person Kurz sei dessen Kurs bei Fluchtthemen ausschlaggebend für den Erfolg der ÖVP gewesen, heißt es da. Regierungsarbeit müsse nicht besonders harmonisch erfolgen, sondern sei ein Kampf um Profilierung, denkt man unter den Kurzianern – sichtbar war das an der Zermürbung mehrerer grüner Gesundheitsminister.

Offen artikuliert wurde diese Sichtweise nun vonseiten der Wiener Landespartei. Diese ist eng mit der Ära Kurz verwoben. Noch vor wenigen Monaten war Kurz’ wichtigster Vertrauter Gernot Blümel deren Obmann; als Landesgeschäftsführerin fungierte Bernadette Arnoldner, die wiederum mit Telekom-Austria-Chef und Kurz-Freund Thomas Arnoldner liiert ist. Als Kurz ging, zogen sich bekanntlich beide zurück. Ad acta gelegt ist der türkise Einschlag damit aber nicht.

Der Wiener ÖVP-Obmann Karl Mahrer (li.) und sein Klubchef Markus Wölbitsch waren sich in der Causa Sachslehner uneinig.
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Klubchef Markus Wölbitsch sehnte sich nach Sachslehners Rücktritt in einem Posting prompt nach jener "Mitte-rechts-Politik", für die die ÖVP 2020 in Wien gewählt worden sei. Er erntete Beifall, unter anderem von Parteiurgestein Manfred Juraczka. Dieser trat der ÖVP schon als Schüler bei, brachte es 2012 bis zum Landesparteichef und ist mit ihren inneren Dynamiken bestens vertraut.

Flügelkämpfe in der Landes- oder Bundespartei will er so gar nicht erkennen: Wenn der Eindruck von Zerstrittenheit entstehe, liege das am "gelebten Individualismus" in der ÖVP, sagt er im STANDARD-Gespräch. Da würden eigene Meinungen dazugehören. Sachslehner könne die ihre im Gemeinderat, auf den sie sich jetzt ganz konzentrieren kann, voll vertreten, meint Juraczka. Denn in Wien brauche sie auf keine Koalition Rücksicht zu nehmen.

Schlechter Zeitpunkt für Störfeuer

Wie gerne die ÖVP die Kursdebatte beendet hätte, wird 30 Minuten nach dem Gespräch deutlich: Karl Mahrer, aktueller Chef der Wiener ÖVP, meldet sich persönlich, um seine Sicht darzulegen. Die da wäre: Journalistisch werde versucht, "von allen Seiten einen Konflikt darzustellen".

Das Wiener Parteiurgestein Manfred Juraczka sieht keinen Richtungsstreit, sondern "gelebten Individualismus".
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Für Mahrer kommen die Querschüsse aus den eigenen Reihen zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Anstatt der SPÖ genüsslich die Causa Wien Energie vorhalten zu können, muss er ausrücken, um seine Leute zu erklären und Nehammer den Rücken zu stärken. Denn offizielle Wiener Linie ist das Wölbitsch-Posting nicht.

Die Länder wollen Ruhe

Und dann gibt es noch die dritte, vielleicht größte Strömung innerhalb der ÖVP: die Länder, die jeden Mucks aus Wien als störend empfinden. Während der Ära Kurz sonnte man sich im Erfolg, aber auch da gab es gegen Ende hin immer lautere Misstöne. Vor allem im Westen fühlt man sich als Kollateralschaden der türkisen Skandale und fragt, ob die Wirtschaftsbund-Affäre in Vorarlberg oder die Querelen um die Jungbauernschaft in Tirol so viel Aufmerksamkeit erhalten hätten, wenn das Image der ÖVP nicht so am Boden liegen würde.

Symptomatisch dafür war etwa die Entscheidung des Tiroler Spitzenkandidaten Anton Mattle, statt mit "Tiroler Volkspartei" als "Mattle – Liste Mattle Tiroler Volkspartei" in die Wahl zu ziehen. Wenn die Tiroler ÖVP am 25. September weniger als 30 Prozent erringt, ist jedenfalls Feuer am Dach. Dann könnte nämlich auch Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), die wohl mächtigste Frau der Volkspartei, ins Grübeln geraten.

Mikl-Leitner und die niederösterreichische ÖVP können nicht nur wahlkämpfen, sondern auch die Bevölkerung bei Laune halten.
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In Niederösterreich ist der Urnengang für Jahresbeginn 2023 anberaumt. Bislang gilt Mikl-Leitner als enge Verbündete von Nehammer, die beiden Familien fahren (gemeinsam mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, ÖVP) auch alljährlich zum gemeinsamen Skiurlaub. In Niederösterreich sorgt man sich vor allem um die Aufstellung der Bundespartei.

Selbst ist man dort fast perfekt organisiert; man kann nicht nur wahlkämpfen, sondern hält die Bevölkerung rund um die Uhr bei Laune – von Gartentipps über Feierlichkeiten bis hin zu massiven Förderungen in der Energiekrise. Das bietet, ähnlich wie die SPÖ in Wien, ganz andere Kritikpunkte. Aber: Es funktioniert.

Sachslehner hielt man in St. Pölten stets für eine Fehlbesetzung; überhaupt sei die Parteizentrale in Wien ausgedünnt und unerfahren. Viele politikinteressierte Jung-ÖVPler zogen es vor, Kabinettsmitglieder oder parlamentarische Mitarbeiter zu werden. Die Bundespartei vertrocknete ressourcentechnisch, das rächt sich jetzt.

"Superkleber Erfolg"

Wohin das alles führt? Noch wird der Kampf um die Vorherrschaft in der ÖVP nicht mit aller Wucht geführt. Aber der "Superkleber Erfolg", wie es der Politologie Peter Filzmaier nannte, hat seine Kraft verloren. Da kommt einmal mehr zum Vorschein, dass die ÖVP ein schwieriges Konstrukt ist. Sie will ja die Interessen fast aller Österreicherinnen und Österreicher abdecken. Ihre Bünde vertreten die Jungen und die Älteren; die Bauern, die Arbeitnehmerinnen und die Wirtschaftstreibenden. Manche leben den christlichen Gedanken der Nächstenliebe und wollen eine engagierte Flüchtlingspolitik; andere am liebsten die FPÖ von rechts überholen.

Wer will, kann innerhalb der ÖVP LGBTQI-freundliche Politikerinnen und Politiker finden, die wie Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm gegen ein Ende der Diskriminierung bei Blutspenden eintraten. Wer will, findet auch Abgeordnete, die in Vereinigungen aktiv sind, die am liebsten Scheidung und Verhütung verbieten würden. Wer will, findet Ortsgruppen, die sich engagiert um die Integration von Flüchtlingen bemühen. Aber auch ausländerfeindliche Erzählungen werden von ÖVP-lern bedient.

Eine Ära Kurz – und viele Interpretationen

Ebenso divers sind die Perspektiven auf die Ära Kurz. Die vielen Chats, die nach außen drangen, widern vor allem in den Ländern viele Engagierte an. Was könne ein schwarzer Bürgermeister dafür, dass sich Thomas Schmid als Generalsekretär im Finanzministerium seinen Traumjob bei der Staatsholding Öbag zimmerte, jammert man da. Gleichzeitig hängen viele dem Narrativ an, dass eine wilde Allianz aus Grünen, Roten und Korruptionsjägern Kurz aus dem Amt "geputscht" habe, weil sie der ÖVP den Erfolg neidete.

Ein Bild aus längst vergangenen Tagen: Karl Nehammer und sein Vorgänger Sebastian Kurz.
Foto: APA/Herbert Neubauer

Bemühungen, all diese innerparteilichen Differenzen aufzuarbeiten, sind momentan nicht spürbar. Die FPÖ hat nach der Ibiza-Affäre einen harten Schnitt gemacht, Ex-Parteiobmann Heinz-Christian Strache sogar aus der Partei geschmissen. Eine Arbeitsgruppe bemühte sich um Compliance-Regeln, innerparteilich rang man bis zuletzt um einen Kurs.

Möglich war das vielleicht, weil die FPÖ im Bund und in vielen Bundesländern in Opposition ist. Die ÖVP ist hingegen die Partei von Kanzler und Landeshauptleuten, von der Macht lösen will sie sich natürlich nicht. So entsteht aber bei vielen Wählerinnen und Wählern der Eindruck des "Weiterwurschtelns" und des Regierens um des Regierens willen. Und je länger der Aufarbeitungsprozess vor sich hergeschoben wird, desto schmerzhafter dürfte er werden. (Fabian Schmid, Stefanie Rachbauer, 17.9.2022)