"Die Situation ist dramatisch, zahlreiche Menschen hier haben alles verloren", erklärte Alberto Agarbati, Gemeinderat in der mit sechs Todesopfern besonders schwer betroffenen Kleinstadt Ostra in der Region Marken. Überall lägen Schlamm, Geröll und Baumstämme. Weggeschwemmte Autos seien auf allen Straßen verteilt – "eine apokalyptische Szene". Das Wasser des Flusses Misa, der den Ort durchquert, sei plötzlich hoch wie eine Mauer über Ostra hereingebrochen, immer höher geworden und habe alles mitgerissen, was sich in seinen Weg gestellt habe. Von der Misa verwüstet wurde auch der Badeort Senigallia an der Adriaküste: Dort stieg der Pegelstand des vorher fast ausgetrockneten Flusses nach Angaben der Behörden zwischen 21 und 23 Uhr von 21 Zentimeter auf fünfeinhalb Meter.

Den Badeort Senigallia an der Adriaküste haben die Unwetter besonders schwer getroffen.
Foto: Italian Firefighters - Vigili del Fuoco via AP

Insgesamt haben die Überschwemmungen in den Marken mindestens zehn Todesopfer gefordert, am Freitag wurde der Notstand ausgerufen. Vier Menschen wurden am Freitagnachmittag noch vermisst, darunter zwei Kinder. 50 Personen wurden mit Knochenbrüchen oder wegen Unterkühlung ins Krankenhaus von Senigallia eingeliefert. Die Schäden in den prächtigen historischen Zentren der betroffenen Städte konnten gestern noch nicht beziffert werden, doch sie dürften Hunderte von Millionen Euro betragen. "Senigallia ist ein Trümmerhaufen, mein Restaurant ist zerstört", erklärte die Wirtin des Piccolo Bistrot gegenüber dem staatlichen Radio. "In unserem Lokal stehen drei Meter Wasser, unsere ganzen Opfer waren umsonst. Ich weiß nicht, ob wir je wieder öffnen werden."

Extremniederschläge

Verursacht wurden die Überschwemmungen von extremem Starkregen – einer "Wasserbombe", wie die Italiener das immer häufiger werdende Phänomen bezeichnen. In dem Ort Cantiano sind laut den Behörden innerhalb von nur siebeneinhalb Stunden 420 Liter Regen pro Quadratmeter niedergegangen. Das entspricht fast der Hälfte des gesamten Niederschlags des vergangenen Jahres. Zum Vergleich: Bei der Jahrhundertflut im rheinland-pfälzischen Ahrtal im Juli 2021 waren innerhalb von 24 Stunden 115,3 Liter pro Quadratmeter gemessen worden. Begünstigt wurden die Extremniederschläge in den Marken von einer sehr hohen Luftfeuchtigkeit, von einer Lufttemperatur von 30 Grad und von an Ort und Stelle kreisenden Gewitterzellen.

Überschwemmte Straßen in der Stadt Cantiano in der italienischen Region Marken am Freitag.
Foto: REUTERS/Yara Nardi

Italien erweist sich immer mehr als Hotspot des Klimawandels: Wurden in Italien im Jahr 2009 noch rund 300 Extremwetterphänomene gezählt, waren es im Jahr 2019 laut der European Severe Weather Database mehr als 1.600 – eine Verfünffachung innerhalb von zehn Jahren. Die Flut in den Marken folgte auf den schlimmsten Hitze- und Dürresommer seit 500 Jahren mit landwirtschaftlichen Schäden in der Höhe von sechs Milliarden Euro.

Anfang Juli stürzte wegen der zu hohen Temperaturen in den Alpen ein Teil des Marmolata-Gletschers in den Dolomiten in die Tiefe und riss elf Bergsteiger in den Tod. Letzten Sommer wurde auf Sizilien mit 48,8 Grad Celsius die höchste je in Europa gemessene Temperatur registriert; in Städten wie Rom und Perugia sind die Durchschnittstemperaturen seit dem Jahr 2000 um zwei Grad angestiegen.

Opfer der Klimakrise

"Zuerst die Toten der Marmolata, jetzt diejenigen der Marken: Wir sind es leid, in immer kürzeren Abständen Opfer der Klimakrise beklagen zu müssen", erklärte der Chef der italienischen Grünen, Angelo Bonelli. In Italien, so Bonelli, lebten acht Millionen Menschen in Gebieten, die von Überschwemmungen und Erdrutschen bedroht seien. Getan werde aber chronisch zu wenig. Und wenn dann ein absehbares Desaster eintrete, dann heuchle die Politik Bestürzung – "um schon am nächsten Tag zur Tagesordnung überzugehen und der Zerstörung der Umwelt und des Territoriums weiterhin untätig zuzusehen", betonte Bonelli. (Dominik Straub aus Rom, 16.9.2022)