Rechtsanwältin Barbara Steiner empfängt den STANDARD in ihrem Büro in Wien-Neubau. Die Juristin ist umtriebig. Neben ihrem Brotberuf als Anwältin arbeitet sie als Prozessbegleitung und engagiert sich seit Jahren in dem Verein Die Juristinnen.

STANDARD: Ihr Verein will eine feministische Perspektive auf das Recht bieten. Warum braucht es das 2022 überhaupt noch? Sind wir nicht eh schon alle Feministinnen und Feministen?

Steiner: Im Recht ist geschlechterspezifische Diskriminierung leider immer noch ein großes Thema, patriarchale Strukturen existieren nach wie vor. Man muss sich nur den Frauenanteil in der Branche ansehen: Zwar sind die Geschlechterverhältnisse bei Gericht oder den Staatsanwaltschaften recht ausgeglichen, unter den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ist das Bild aber ein ganz anderes. In Wien lag die Anzahl an Rechtsanwältinnen im Jahr 2021 bei nur 26 Prozent, österreichweit sogar bei nur 24 Prozent. Und das, obwohl die Hälfte der Rechtsanwaltsanwärterinnen und Rechtsanwaltsanwärter eigentlich Frauen sind. Die wenigsten arbeiten dann aber in dem Beruf. Noch geringer ist die Anzahl an Partnerinnen in Kanzleien. In den 20 größten österreichischen Kanzleien lag die Zahl der Equity-Partnerinnen im Jahr 2021 bei unter zehn Prozent.

Barbara Steiner ist Anwältin und Vorstandsvorsitzende des Vereins Die Juristinnen.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Woran liegt das?

Steiner: Es liegt an dem Bild, das bereits während der Ausbildung über den Job als Rechtsanwältin nach außen vermittelt wird: Der Beruf sei nicht mit einer Familie vereinbar. Es wird suggeriert, dass man rund um die Uhr erreichbar sein muss, abends spät aus dem Büro kommt und keine fixen Arbeitszeiten hat. Diese Erwartungshaltung ist in der Branche nach wie vor vorherrschend und schreckt ab. Ein Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags hat das einmal sogar öffentlich in einer Pressestunde gesagt, dass die Ausübung des Rechtsanwältinnenberufs nicht mit der Betreuung von Kindern vereinbar sei. Das war eine Aussage, die ich als zutiefst verstörend empfunden habe. Das ist einfach nicht wahr und suggeriert, dass Frauen alleine für die Kinderbetreuung zuständig sind.

STANDARD: Sie selbst sind Rechtsanwältin mit einer eigener Kanzlei, Prozessbegleiterin und in einem Verein aktiv – und Sie haben eine elfjährige Tochter.

Steiner: Ja, und ich sage, es geht. Klar, es ist oft ein Balanceakt, und alle Beteiligten müssen mitspielen. Aber es ist möglich, als Frau in diesem Beruf Karriere zu machen und gleichzeitig eine Familie zu haben. Ich kann verstehen, warum der Beruf als Richterin oder Staatsanwältin mit fixen Arbeitszeiten und hoher sozialer Absicherung als Vertragsbedienstete für manche Frauen attraktiver ist. Aber es braucht ein Umdenken. Die enorme Erwartungshaltung Rechtsanwältinnen gegenüber ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Eine 60-Stunden-Woche ist einfach nicht nötig, um den Beruf professionell und gut auszuüben. Es geht auch anders.

STANDARD: Sie beschäftigen in Ihrer Kanzlei vier Mitarbeiterinnen. Was machen Sie anders?

Steiner: Wir haben fixe Bürozeiten und Überstunden sind nicht notwendig. Ich habe kein Diensthandy und bin nur zu den üblichen Bürozeiten erreichbar. Das muss man einfach durchziehen und den Klientinnen und Klienten gegenüber offenlegen, dass man nicht 24/7 erreichbar ist, dann funktioniert das auch. Ich versuche in meiner Arbeit als Rechtsanwältin, aber auch als Arbeitgeberin eine feministisch-emanzipatorische Grundhaltung einzunehmen. Ich bin davon überzeugt, dass das in der Ausbildung von Rechtsanwaltsanwärterinnen eine Auswirkung hat und ihnen die Möglichkeit bietet, selbst mit einer anderen Haltung in den Beruf einzusteigen.

STANDARD: Welche Maßnahmen bräuchte es, um das Bewusstsein in der Branche zu ändern?

Steiner: Es braucht nicht nur ein gesellschaftliches Umdenken, sondern auch einen gewissen Willen in der Politik, etwa im Bereich Pensionsrecht, Sozialleistungen oder Karenz. Eine Frau, die in dem Beruf ein Kind bekommt und längere Zeit nicht oder Teilzeit arbeitet, ist nach wie vor ein Tabu, ebenso dass Männer in Karenz gehen. Es bräuchte Anreize dafür.

STANDARD: Sie sprechen von Reformen.

Steiner: Ja, Reformen sind sicher sinnvoll und in vielen Bereichen notwendig. Oft sind es aber auch andere Maßnahmen, die etwas bewirken würden: Das Logo der Rechtsanwaltskammer etwa lautet "Die Wiener Rechtsanwälte". Über eine Änderung des Logos gab es kürzlich eine Abstimmung in der Kammer. Eine Änderung der Sprache und des Sprachgebrauchs würde sicherlich für junge Frauen einen Beitrag dazu leisten, sich in der Branche gesehen zu fühlen. Für eine Namensänderung stimmte zwar eine einfache Mehrheit, tatsächlich hätte es für eine Änderung aber eine Zweidrittelmehrheit gebraucht. Es wird also weiterhin "Die Wiener Rechtsanwälte" heißen.

STANDARD: Die Rechtsanwaltskammer hat gerade zum jährlichen Anwaltstag eingeladen. Von 16 Vortragenden sind 16 Männer. Angeblich hat man keine Frauen gefunden, die dort sprechen wollten.

Steiner: Ich glaube, dass dieser starke Überhang an Männern ein Strukturproblem ist. Es reicht nicht zu sagen, man habe keine Frauen gefunden. Man muss diese gezielt ansprechen und motivieren, öffentlich aufzutreten und an Diskussionen teilzunehmen. Es reicht nun mal nicht, dass Frauen mitgemeint sind.

STANDARD: Welche Gleichbehandlungsbaustellen sehen Sie abseits der Arbeitsrealität im Bereich Recht?

Steiner: Ein gutes Beispiel aus der Praxis, das patriarchale Strukturen offenlegt, kommt aus dem Bereich Familienrecht: Es ist bekannt, dass Frauen statistisch gesehen im Durchschnitt ein Drittel weniger verdienen als Männer. Im Unterhaltsrecht musste durch die Diskussion über die Doppelresidenz – also die Regelung, in der sich Eltern die Obsorge 50 zu 50 teilen – geklärt werden, wer wie viel Kindesunterhalt zu zahlen hat. Der Oberste Gerichtshof hat dazu die Entscheidung getroffen, dass ein Gehaltsunterschied der Eltern von bis zu einem Drittel als quasi gleiches Gehalt behandelt wird. Es wurden somit die Gehaltsstrukturen von Frauen vom Arbeitsmarkt ins Unterhaltsrecht übernommen. Das ist eine massive Benachteiligung von Frauen. Bei Großverdienerinnen mag das unproblematisch sein, aber bei mittleren und kleinen Einkommen ist das eine große Belastung.

STANDARD: Sie sind Prozessbegleiterin und unterstützen Opfer von Gewalt. Haben Sie den Eindruck, dass im Bereich Gewalt gegen Frauen genug getan wird?

Steiner: Die Gewaltschutz- und Opferschutzregelungen in Österreich sind prinzipiell gut, aber es bräuchte in manchen Fällen eine bessere Umsetzung. Das sieht man jetzt auch beim Gesetz gegen Hass im Netz, das im Kern gut ist, aber in der Umsetzung nicht gut funktioniert, etwa weil es für Opfer in einigen Fällen ein zu hohes Kostenrisiko gibt. Auch gibt es zu wenig Aufklärung über das Instrument der kostenlosen Prozessbegleitung: Nur etwa zehn Prozent der Opfer von Gewalt nehmen Prozessbegleitung überhaupt in Anspruch. Dabei ist die Wahrnehmung von Opferrechten enorm wichtig für die Emanzipation eines Opfers. Psychosoziale und juristische Unterstützung können dabei helfen. Viele wissen gar nicht, welche Opferrechte sie haben – etwa dass sie Anspruch auf Akteneinsicht haben oder sie in Abwesenheit des Täters aussagen können.

STANDARD: Was sollte sich hier ändern?

Steiner: Eigentlich müssen die Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte Opfer von Gewalt über ihren Anspruch auf Prozessbegleitung aufklären. Was das eigentlich ist, wird häufig nicht erklärt. Und da wären wir auch schon bei einem weiteren Punkt: Es mangelt an der Ausbildung von Ermittlungsbehörden oder Entscheidungsorganen, aber auch von Juristinnen und Studentinnen. In den Ausbildungsseminaren zum Strafrecht kommen etwa die Begriffe "Opferrechte" und "Prozessbegleitung" gar nicht vor.

STANDARD: Sie haben Ihr Studium am Juridicum in Wien absolviert. Angeblich gab es da lange Professoren, die Studentinnen, die bei der mündlichen Prüfung keinen Rock getragen haben, aus Prinzip nicht gut benotet haben. Haben Sie so etwas jemals erlebt?

Steiner: Ja, ich habe das erlebt. Ob das immer noch passiert, kann ich nicht beurteilen. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass das Jusstudium und die Ausbildung zur Rechtsanwältin noch immer ein sehr patriarchales System widerspiegeln. Am Juridicum gibt es mittlerweile das Fach Legal Gender Studies, das man belegen kann. Das ist natürlich gut. Wesentlich wäre aber, dass Legal Gender Studies ein für alle verpflichtendes Grundlagenfach wäre.

STANDARD: Bessere Ausbildung, Reformen und praxisnahe Gesetze – es gibt also noch viel zu tun. Welche Lösungsansätze verfolgt Ihr Verein?

Steiner: Wir organisieren Diskussionsveranstaltungen und schreiben Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen. Wir setzen uns aber auch stark für die Vernetzung von Juristinnen ein, die sich austauschen und ihre eigenen Erfahrungen teilen wollen. Bei regelmäßigen Treffen haben sie die Möglichkeit, kritische Diskussionen über ihre Arbeitsrealitäten und über Rechtsthemen zu führen. Auch vernetzen wir uns mit Studierenden – ihr Interesse an unserem Verein ist groß. Generell haben wir in den letzten Jahren verstärkten Zulauf bemerkt. Das zeigt uns, dass der Bedarf an Austausch und einem feministischen Diskurs da ist und Netzwerke wichtig sind. Damit steht man nicht mehr als Einzelkämpferin da, man hat gemeinsam eine politische Grundhaltung. Das ist enorm wichtig, um Dinge zu bewegen und Machtpositionen von Frauen zu stärken. (Viktoria Kirner, 26.9.2022)