Lyssytschansk, die ukrainische Heimatstadt Ihors, liegt in Trümmern.

Foto: Jo Angerer

Die Ungewissheit, die Angst sei nicht auszuhalten gewesen, erzählt Ihor. Seit langen Jahren lebt und arbeitet der 35-jährige Ukrainer in Moskau. Geboren ist Ihor in Lyssytschansk, jener lange umkämpften Stadt, etwa 70 Kilometer nordwestlich von Luhansk. Anfang Juli hatten sich die ukrainischen Truppen zurückgezogen, russische Soldaten beherrschen nun die Stadt. Die Frontlinie verläuft derzeit etwa zwölf Kilometer entfernt.

Doch wie geht es Ihors Verwandten, die in Lyssytschansk ausharren? Über viele Wochen hatte Ihor keinen Kontakt mehr zu ihnen. Schließlich fährt er einfach los. "Seit mehr als vier Monaten hatte ich von meiner Familie nichts gehört. Ich wusste nicht, ob sie noch leben, was mit ihnen passiert ist. Mein Auto war voll beladen mit Proviant, Konserven, Kleidung, Kerzen, Gasflaschen", erzählt Ihor dem STANDARD.

Schwierige Rückreise

Aus Russland über die Grenze, in die selbst ernannte Volksrepublik Luhansk, kommt man ohne Probleme. Schwierig wird es bei der Rückreise. "Das Auto wird kontrolliert. Außerdem werden an der Grenze die Leute befragt, die nach Russland einreisen wollen. Welche Kontakte sie in der Ukraine hatten, ob sie im ukrainischen Militär waren. Aber bei mir lief alles reibungslos." Wohl auch, weil Ihor auch einen russischen Pass hat.

Ihor erzählt von seiner Reise, von seinen Eindrücken. Nachprüfen kann man das nicht. Aber Ihor scheint glaubwürdig. Das, was in der Ukraine geschieht, verurteilt auch er. Und er regt sich maßlos auf über das, was ihm in Moskau seine russischen Freunde und Kollegen erzählen, was sie zur Begründung der russischen "Spezialoperation" im Staatsfernsehen gesehen haben.

Je näher Ihor seiner Heimat kommt, desto beklommener wird er. Überall Panzerwracks, zerstörtes Militärgerät. "Wahrscheinlich russisch", vermutet Ihor. "Die Straßen sind schrecklich, es gibt viel Staub, außerdem war es stickig." Dann erreicht er seine Heimatstadt. "Bereits am Stadtrand von Lyssytschansk habe ich viel Zerstörung gesehen. Es ist ein ganz normales Bild, dass Projektile aus dem Asphalt herausragen. Besonders viel ist in der Nachbarstadt Sjewjerodonezk zerstört. Die ganze Stadt liegt praktisch in Trümmern."

Mangel an Trinkwasser

Schließlich steht Ihor vor dem Haus seiner Verwandten. Es ist, wohl ein glücklicher Zufall, völlig unzerstört, sogar die Fensterscheiben sind intakt. Und, wichtiger noch, alle seine Verwandten haben die Kämpfe überlebt. Mit dem Nötigsten seien sie versorgt, erzählen sie, dank russischer Hilfslieferungen. "Das größte Problem ist der Mangel an Trinkwasser in den Häusern", sagt Ihor. "Natürlich gibt es eine Wasserquelle in der Siedlung, aber dort muss man anstehen. Es gibt auch keinen Strom – und keine Gasversorgung. Die Menschen wissen nicht, wie sie den Winter überleben werden."

Zwei Wochen verbringt Ihor in Lyssytschansk. Langsam machen die Geschäfte wieder auf. "Allerdings verkaufen sie keine verderblichen Waren", so Ihor. "Ohne Strom funktionieren die Kühlschränke nicht. Daher ist es schwierig, Käse, Wurst oder Butter zu kaufen." Das Verhältnis der Bewohner zu den russischen Besatzern sei normal, erzählen Ihors Verwandte. Sie hätten die Russen nicht jubelnd als Befreier begrüßt, wie es oft in russischen Medien dargestellt wird. Aber sie würden die Soldaten auch nicht hassen, wie es oft in westlichen Medien erzählt wird. Die Russen würden ihnen beim Wiederaufbau helfen. Im September sollten die russischen Rentenzahlungen beginnen, überwiegend sind es ältere Menschen, die in der Stadt geblieben sind. Einige ukrainische Soldaten seien beim Rückzug ihrer Armee geblieben, hätten die Waffen niedergelegt, die Uniform ausgezogen, erfährt Ihor. Auch sie hätten keine Probleme mit den neuen Herren der Stadt.

Wunsch nach Frieden

Nach dem Rückzug aus Lyssytschansk erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Wenn das Armeekommando die Menschen aus bestimmten Frontabschnitten herausholt, wo der Feind die größte Überlegenheit hat – wie in Lyssytschansk –, bedeutet das nur eines: Wir kehren zurück. Dank unserer Taktik, dank Lieferungen moderner Waffen. Die Ukraine gibt nichts ab." Nach den militärischen Erfolgen im Raum Charkiw soll nun auch die Provinz Luhansk zurückerobert werden, so zumindest der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch.

Dann würde wohl auch um Lyssytschansk wieder gekämpft werden. Aber wollen das die Menschen hier überhaupt? Nein, sagt Ihor. Zumindest seine Verwandten nicht. Sie wollen nur eines: endlich in Frieden leben. "Es ist ihnen völlig egal, unter wessen Flagge sie leben werden, die Hauptsache ist, dass es keinen Krieg mehr gibt." (Jo Angerer aus Moskau, 17.9.2022)