Das Metaverse schafft neue berufliche Möglichkeiten für alle Menschen.
Foto: imago images/Xinhua/Zheng Huansong

Vor wenigen Wochen wollte eine junge Wissenschafterin im Auftrag der NGO Sum of Us die VR-Plattform Horizon Worlds erkunden. In dieser virtuellen Welt, die man mit einem Facebook-Account betritt und die Mark Zuckerberg zum neuen Metaverse-Standard machen will, läuft man mit einem seltsam unterleibslosen Avatar durch dreidimensionale Arbeits- und Freizeitlandschaften. Doch kaum hatte sich die Forscherin mit ihrem Avatar in Facebooks 3D-Welt umgesehen, wurde sie auch schon sexuell belästigt.

In einem 28-sekündigen Videoclip, der auf Google Docs hochgeladen wurde, ist zu sehen, wie sich in einem schummrigen Hinterzimmer ein männlicher Avatar über die Frau hermacht, während ein anderer dabei zusieht. Man hört wummernde Bässe, Männerstimmen, Gelächter. Dann reicht der zweite männliche Avatar – Hoodie, Hornbrille, Basecap über dem schulterlangen schwarzen Haar – eine virtuelle Wodkaflasche. "Du brauchst mehr davon, Kleines", sagt einer. Schließlich verlässt die Frau unter dem Gejohle der Männer den Raum.

In einem später veröffentlichten Bericht (Metaverse: another cesspool of toxic content) heißt es, die Frau sei in den Privatraum einer Party geführt und dort von einem Nutzer "vergewaltigt" worden. Der sexuelle Akt sei "nicht einvernehmlich" gewesen. Die 21-jährige Forscherin, deren Name in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, gab zu Protokoll, dass bei der Berührung durch andere Nutzer die Handcontroller vibrieren und dies bei einer "virtuellen Vergewaltigung" eine "sehr desorientierende und sogar verstörende körperliche Erfahrung" erzeuge. Eine virtuelle Vergewaltigung kann sich also sehr real anfühlen.

Notwendige Abstandsregel von vier Fuß

Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Anfang des Jahres berichtete eine Frau über eine virtuelle Gruppenvergewaltigung auf der Meta-Plattform Horizon Venues. Der Konzern reagierte auf die Vorfälle, indem er eine Mindestabstandsregel von vier Fuß einführte. Laut dem Bericht soll die junge Wissenschafterin, die jetzt bedrängt wurde, dieses standardmäßig für den Kontakt mit Nichtfreunden eingestellte Feature deaktiviert haben.

Nun wäre es völlig verquer, der Frau die Schuld für diese – ja, was eigentlich: Aktion? Simulation? Tat? – zu geben, schließlich ist sie das Opfer. Die Frage ist: Sind virtuelle, nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen auch in ihren rechtlichen Folgen real? Macht sich also jemand, der einen Avatar begrapscht, strafbar? Oder ist das alles nur ein (Rollen-)Spiel? Und: Sind solche Mindestabstände wirklich ein geeigneter Schutz vor Sexmobs?

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker erntete Hohn und Spott, als sie nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 vorschlug, Frauen sollten zu Fremden eine "Armlänge Abstand" halten. Die Journalistin Caroline Criado-Perez kritisiert in ihrem Buch Unsichtbare Frauen, dass öffentliche Räume von und für Männer konzipiert seien. Die Infrastruktur von Städten sei von dem Gedanken getragen, dass Frauen zu Hause in den Vororten die Kinder großziehen und Männer in den Städten das Geld verdienen. Frauen müssten daher viel häufiger öffentliche Verkehrsmittel nutzen und sich an dunklen, schlecht beleuchteten Bus- und Bahnhaltestellen aufhalten. Die Idee von Zonen – Wohnen hier, Arbeiten und Freizeit dort – sei antiquiert, sagt Criado-Perez.

Wenn der virtuelle Raum wie der physische Raum genauso genderblind nachgebaut wird, könnte sich diese Benachteiligung von Frauen verstärken. Einerseits. Andererseits hebt der virtuelle Raum die Zonierung auf, weil das Zuhause zur Arbeitsstätte wird. Und das eröffnet neue Möglichkeiten für Frauen.

Avatare lassen sich individuell personalisieren

So verdient die Modeschöpferin Monica Louise durch den Verkauf von virtuellen Textilien auf der Metaverse-Plattform Zepeto einen sechsstelligen Betrag im Jahr. Die Onlinewelt, die von dem südkoreanischen Tech-Konzern Naver entwickelt wurde und wie eine etwas überzuckerte Version von Second Life wirkt, ist das größte Metaversum in Asien – 70 Prozent der Nutzer sind Frauen. Per App kreiert man mit einem Foto eine animierte Spielfigur, mit der man zum Beispiel am Strand ein Date haben kann. Durch In-App-Käufe lässt sich der Avatar mit Kleidung, Accessoires und Frisuren weiter personalisieren.

"Mein Avatar ist der, der ich an dem Tag sein will", sagte Designerin Louise der BBC.

Mit digitalen Technologien war schon immer die Utopie einer Welt ohne Gender verknüpft, wo Geschlechtlichkeit keine Rolle mehr spielt. "Cyborgs sind Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt", postulierte die Feministin Donna Haraway in ihrem Cyborg Manifesto im Jahr 1980. Gewiss, manche Avatare reproduzieren Stereotype. Doch in digitalen Paralleluniversen lassen sich viel schneller neue Identitäten annehmen als im physischen Raum.

Wer einmal in der virtuellen Spielewelt von Roblox unterwegs war, wird dort elfenhafte Fantasiefiguren gesehen haben, von denen man nicht weiß, ob sich dahinter eine Nutzerin oder ein Nutzer verbirgt. Niemand ist gezwungen, einen weiblich oder männlich gegenderten Avatar auszuwählen.

Eine Frau im Blaumann wird im Metaverse viel schneller akzeptiert als im realen Leben – eben weil es ein Rollenspiel und Kleidung nur Verkleidung ist. Wenn wir künftig im Metaverse arbeiten, braucht es keine Abstands- oder Kleidungs regeln, sondern vor allem Anstands- und Verhaltensregeln. (Adrian Lobe, 16.09.2022)