Auch das obere Drittel der Einkommensbezieher bekommt gerade den Geldregen mit der Gießkanne ab.
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Es ist ein provokanter Satz, der prompt einen Streit auslöste. Der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, hatte in Anspielung auf die vielen Hilfspakete, die von der Regierung derzeit aufgelegt werden, davon gesprochen, dass ihm die "Vollkasko-Mentalität" in Österreich sorgen mache. Umgehend kam Widerspruch. Es gehe nicht um Vollkasko-Mentalität, schrieb Clemens Mitterlehner, Chef der Schuldnerberatung ASB auf Twitter. Für viele Menschen stehe angesichts der Rekordinflation das "nackte Überleben" auf dem Spiel. "Bitte dran denken, wie sich Armutsbetroffene fühlen, wenn sie so etwas lesen."

Ins selbe Horn stieß Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer (AK). Die Regierung habe "kein Erbarmen" mit Arbeitslosen, lasse sie in Armut abrutschen, von Vollkasko-Mentalität könne keine Rede sein.

Felbermayr, der wirtschaftsliberale Ökonom also, der Leistungen für Arme kürzen will, obwohl diese angesichts der Teuerung um ihre Existenz bangen: Genau so wurde der Satz von vielen aufgefasst. Doch diese Kritik geht am Punkt vorbei. Im Gespräch mit der Süddeutschen über die Vollkasko-Mentalität ging es dem Wifo-Chef nämlich nicht darum, staatliche Hilfen ans ärmste Drittel der Bevölkerung infrage zu stellen. "Jenen zu helfen, die es dringend brauchen, ist selbstverständlich, natürlich darf das nicht verweigert werden", sagt Felbermayr zum STANDARD.

Der Begriff spielt auf etwas anderes an: Der Staat greift, so die These, zunehmend auch jenen unter die Arme, die es nicht unbedingt brauchen. Das betrifft Unternehmen sowie wohlhabendere Haushalte, bei denen sich die Frage stellt, ob sie mit der Energiekrise nicht gut selbst klarkommen könnten. Das ist eine Debatte, die es wert ist, geführt zu werden.

In der Sozialversicherung gilt das System der Lebensstandardsicherung: Wenn Menschen arbeitslos werden oder wegen einer Erkrankung nicht mehr arbeiten können, sollen sie nicht sofort auf ein Minimaleinkommen zurückgeworfen werden, mit dem sie gerade überleben können. Die Versicherung soll stattdessen den LebensStandard absichern, zumindest für eine bestimmte Zeit. Doch in den vergangenen zwei Jahren hat der Staat dieses Prinzip auf alle Einkommensgruppen und auf immer neue Lebensrisiken ausgedehnt. Welche Konsequenzen sind damit verbunden, woher kommt diese "Vollkasko"-Tendenz und wann genau hat sie angefangen?

Großzügiger als die anderen

Letzteres lässt sich rasch aufklären. Schon in der Pandemie hat die Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) den Schlachtruf "Koste es, was es wolle" ausgegeben – und dieses Credo gilt bis heute. Die EU-Statistikbehörde Eurostat hat quasi amtlich gemacht, dass kein Land in der Pandemie so viel Geld an Unternehmenshilfen ausbezahlt hat wie Österreich. Das Zentrum für Verwaltungsforschung, ein privates Institut in Wien, hat auf Basis von Eurostatdaten ausgerechnet, dass im ersten Pandemiejahr im EU-Schnitt pro Kopf 325 Euro an Corona-Wirtschaftshilfen geflossen sind. In Österreich waren es 1475 Euro. In Deutschland 451 Euro. In der Schweiz nur 82.

Nun gibt es für diese hohe Rechnung auch nachvollziehbare Gründe: In Österreich gab es mehr Lockdowns. Der Wintertourismus war stark von der Krise betroffen, auch das trieb die Kosten nach oben. Aber das erklärt nur zum Teil, warum Österreich so viel mehr Geld ausgegeben hat als alle anderen Länder in Europa. Inzwischen zeigt ein Rohbericht des Rechnungshofs, dass es in der Pandemie bei den Unternehmenshilfen systematisch zu Überförderungen gekommen ist. Da wurden Verluste ersetzt, die nie angefallen sind. Dazu kam ein üppiges Kurzarbeitsgeld, das an die Unternehmen floss.

"Jenen zu helfen, die es dringend brauchen, ist selbstverständlich. Natürlich darf das nicht verweigert werden." – Wifo-Chef Gabriel Felbermayr

Das System war darauf aus, schnell viel Geld an möglichst viele Unternehmen zu verteilen, ohne genau hinzusehen. Was hat es gebracht? "Österreich ist nicht besser durch die Krise gekommen als etwa Deutschland", sagt die Neos-Abgeordnete Karin Doppelbauer, was im Hinblick auf die Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes richtig ist.

In der aktuellen Inflationskrise werden nun wieder Unsummen bewegt. Auf mehr als 30 Milliarden Euro belaufen sich die von der Regierung zugesagten Maßnahmen im Kampf gegen die Teuerung bis 2026. Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden Hilfszahlungen alle bekommen, ob Rechtsanwalt oder Arbeitsloser, Friseur oder Architektin. Nur ein Drittel der ersten drei Entlastungspakete hängt laut der Wifo-Ökonomin Margit Schratzenstaller vom Einkommen ab.

Jeder bleibt auf seinem Platz

Wie schon in der Pandemie fällt auf, dass Österreich wieder zu einer kleinen Gruppe von Staaten gehört, die besonders viel ausgeben, zeigt eine Analyse des Brüsseler Thinktanks Bruegel. Die Vollkasko-Mentalität scheint bei uns ausgeprägter zu sein. So geben zum Beispiel auch die Briten oder Spanier Milliarden aus, um Strompreise zu drücken. Sie verteilen dafür aber nicht zusätzlich 500 Euro Klimabonus an alle.

Woher kommt diese Mentalität? Der Soziologe Christian Fleck sagt, dass die österreichische Gesellschaft sozial relativ wenig durchlässig ist. Aufstiege gelingen nur langsam, in der Regel nur über mehrere Generationen hinweg, zeigten Studien. Aber Menschen steigen auch selten schnell ab in der sozialen Hierarchie. Es gibt im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder Großbritannien keine Kultur des Scheiterns bei uns, bei der es etwa zum Leben dazugehört, mit einer Firma in die Pleite zu rutschen und dann nochmal anzufangen. Die Leute sind gewohnt, ihren Platz in der Gesellschaft zu halten. Kann es sein, dass diese Erfahrung der Grund ist, dass die Politik in den dramatischen Krisen den LebensStandard für alle absichern will? Gut möglich, sagt Fleck.

DER STANDARD

Ein anderer Faktor könnte die Art sein, wie der Diskurs in Österreich geführt wird. Fast alle rufen nach der Gießkanne. Bis auf die Neos gibt in der politischen Arena keinen Player, der es kritisiert, wenn die Regierung Milliarden verteilt. Die größte Oppositionspartei im Land, die SPÖ, fordert in der Regel noch mehr und raschere Hilfen ein, sozial oft auch wenig differenziert. FPÖ, Gewerkschaften und Seniorenvertreter sehen es ähnlich. Wenn sich Regierungspolitiker also gegen Kritiker absichern wollen, müssen sie lieber etwas mehr, als weniger geben.

Ökonom Felbermayr nennt Populismus als weitere Ursache: In Deutschland gibt es keine so starke Rechtspartei wie die FPÖ in Österreich. Die Freiheitlichen treiben also die Regierung eher mit Forderungen vor sich her.

Der emeritierte Politikwissenschafter Emmerich Tálos dagegen sieht eine Ursache in Klientelpolitik der ÖVP: Die Volkspartei verteile Geld an ihre Unterstützer, das seien nun mal Unternehmer und Besserverdiener. Deshalb bekämen ständig alle was.

Tálos, der viel zu Sozialpolitik geforscht hat, sieht aber noch einen weiteren Grund. Es gebe auch eine gesellschaftliche Sehnsucht nach dem Staat, der verteilt. In Österreich existiere eine besonders lange und starke Tradition, dass die Lösung wichtiger Probleme nicht Privatpersonen oder Unternehmen überlassen werde, sondern der Staat gefragt sei. An diese Tradition werde angeknüpft.

Nun ließe sich einwenden: Der Staat verteilt Geld an alle, aber wo ist das Problem? Wenn alle etwas bekommen, bleibt keiner außen vor. Und Österreich hat bei seinen Gläubigern einen ausgezeichneten Ruf, wir verschulden uns günstig. Aktuell hilft die Inflation, weil Steuereinnahmen sprudeln.

"Das wird aber nicht immer so bleiben", sagt Patrick Krizan, Analyst bei der deutschen Allianz Research. Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen binnen dreier Monate von null auf 1,25 Prozent angehoben. Angesichts einer Inflationsrate von 9,1 Prozent werden die Zinsen weiter steigen – und damit die Kosten der Republik für neue Schulden.

Schulden werden teurer

In den vergangenen 20 Jahren musste Österreich dank sinkender Zinsen immer weniger Geld an seine Gläubiger überweisen. So blieb im Budget mehr Spielraum für den Bau neuer Schulen und Straßen. Aber diese Phase geht zu Ende. Im schlimmsten Fall droht ein Szenario, bei dem die Inflation wegen der Energiekrise hoch bleibt, die Zinsen weiter steigen, während das Wachstum einbricht. Dann wird Schuldenmachen schnell teuer.

Parallel warten große Zukunftsausgaben: Investitionen in die grüne Transformation, in Pflege und Bildung. "Ich mache mir auch Sorgen um die Finanzierung dafür", sagt AK-Ökonom Marterbauer. An diesem Punkt kann auch er der These von der Vollkasko-Mentalität etwas abgewinnen. Es sei nicht gelungen, Sozial- und Versicherungsleistungen, etwa für Arbeitslose, armutsfest zu machen. Hier gehöre mehr Kasko. Dafür verteile der Staat ans obere Einkommensdrittel, zu dem er sich selbst zählt, Geld, obwohl das nicht nötig sei.

"Meine Lebensqualität erleidet durch die hohen Energiepreise keine Einbußen. Ich kann höchstens weniger sparen", sagt Marterbauer. Eine Abstufung der Hilfen nach Einkommen wäre sinnvoll – oder alternativ höhere Steuern. Wenn der Staat nicht zielgerichteter helfen könne, weil er nicht wisse, was Haushalte verdienen und wie sie heizen, dann könnte die Regierung zur Gießkanne greifen, aber im Gegenzug gezielt gewisse Steuern erhöhen, um das wieder abzuschöpfen. Oder er sollte zumindest Steuern nicht senken, sagt Marterbauer in Anspielung an die Senkung der Körperschaftsteuern ab 2023.

Neos-Politikerin Dopelbauer treibt um, dass die Strategie des "Allen-alles-Ersetzens" auf Dauer nicht funktionieren könne, weil die Krise uns ärmer mache. Die schwierige Phase habe erst begonnen, 2023 wird nach Ansicht vieler Ökonomen herausfordernder als 2022.

Viel Geld für Unternehmen

In der Debatte um die Vollkasko-Mentalität geht es aber gar nicht nur ums Budget. Es geht auch um das Mindset der Unternehmer.

Betriebe angesichts von Lockdowns in der Pandemie ohne Entschädigung zu lassen wäre nicht fair gewesen. Das lässt sich argumentieren. Aber in der Inflationskrise gibt es wieder Geld für Unternehmen. Die Details werden vom Wirtschafts- und Klimaministerium erarbeitet. Es gibt einen Zuschuss für energieintensive Unternehmen, dazu eine Strompreiskompensation für Klein- und Mittelbetriebe. Dann noch Hilfen für landwirtschaftliche Erzeuger und für Betriebe, die besonders auf Treibstoff angewiesen sind. Alles zusammen soll über 800 Millionen Euro kosten.

Aber was rechtfertigt das? "Die Unternehmen können sich im Gegensatz zu Haushalten insofern selbst helfen, als sie die hohen Preise weitergeben. Die hohe Inflation besagt ja, dass dies schon passiert", so Felbermayr. Das sei kein Vorwurf, Unternehmen müssen das tun. Aber dann auch noch Hilfen zu bekommen gehe sich schwer aus.

Und: Wenn Unternehmer stetig im Glauben leben, "der Staat haut mich schon raus bei Problemen", verleite das dazu, unvernünftige Risiken einzugehen. Betriebe diversifizieren dann ihre Lieferketten nicht oder setzen bei der Energieversorgung nur auf eine Karte.

Die Grünen bestreiten nicht, dass ihre Hilfsprogramme teuer sind und nicht nur Bedürftigen helfen. Sie argumentieren aber, dass diese Strategie sinnvoll sei. Die Pandemie habe in Österreich zu keiner langen Rezession geführt, weil eben genug Geld da war, sagt der Grüne Budgetsprecher Jakob Schwarz. Eine soziale Staffelung sei in den aktuellen Hilfsprogrammen natürlich mit eingebaut. Bei der Strompreisbremse werde Haushalten nur der Grundverbrauch subventioniert. Wer mehr Strom benötige, müsse sich das selbst zahlen.

Ein anderes Argument lautet, dass alle Bürger das Gefühl bekommen sollen, dass der Staat für sie da sei. Nicht nur Ärmere, auch die Mittelschicht. Dahinter steckt die Angst, dass sich die Mittelschicht als Stütze des Staates abwenden könnte und dadurch radikalere Strömungen erstarken.

Aber steht das Fundament unserer Demokratie tatsächlich auf so wackeligen Beinen? Das darf bezweifelt werden. Es ließe sich umgekehrt argumentieren, dass der Staat Menschen im oberen Drittel der Einkommenspyramide getrost zutrauen darf, eigene Lösungen in der Krise zu finden, ohne dass sie sich gleich abwenden. Wer wirklich abstürzt, wird ja hoffentlich aufgefangen. (András Szigetvari, 18.9.2022)