Einmal, als Student, begegnete ich der Queen persönlich. Sie eröffnete eine neue Bibliothek an meiner Universität im Zentrum von London. Als sie mit ihrer Entourage den Lesesaal betrat, wurde es überraschend still im Raum. Vom Rektor wurde sie zuerst mit "Your Majesty" und dann "Ma’am" angesprochen, so gehört sich das.

An der Geschichte ist nichts Besonderes, denn zu den wichtigsten Aufgaben der Queen zählte ja, Bauten zu eröffnen. Es gibt kaum ein wichtiges Bauwerk der letzten sieben Jahrzehnte, das nicht von ihr eingeweiht wurde. Schöne Gedenktafeln erinnern überall im Land an ihr Wirken. Heute wird sie mit einem prunkvollen Zeremonientheater aus längst vergangenen Zeiten verabschiedet. Die politische Realität in Großbritannien sieht um vieles glanzloser aus; schon bald wird sie die Menschen wieder einholen.

In keinem anderen europäischen Land wurde neoliberale Wirtschaftspolitik so konsequent und über so viele Jahre umgesetzt. Auch die Labour-Partei mit Tony Blairs "drittem Weg" trug das Erbe Margaret Thatchers im Grunde weiter. Seit zwölf Jahren regieren sowieso wieder die Tories. Die konservativen Eliten verstehen es geschickt, anderen für ihr eigenes Versagen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Neben der Europäischen Union fungieren nun die Migranten als Sündenböcke.

Heute wird die Queen in einem prunkvollen Zeremonientheater verabschiedet.
Foto: REUTERS/ POOL

Infrastruktur vernachlässigt

Der Zustand der sozialstaatlichen Einrichtungen ist katastrophal. Dazu kommt, dass die öffentliche Infrastruktur seit Jahrzehnten grob vernachlässigt wird. Aus den privatisierten Eisenbahngesellschaften und den Wasser- und Energieversorgern schöpfen Hedgefonds und Aktiengesellschaften enorme Profite.

Selten wird in die Zukunft des Landes investiert. Die staatlichen Aufsichtsbehörden sind entweder heillos überfordert oder korrupt. Gegenüber großen, privaten Monopolisten scheinen sie auf jeden Fall machtlos zu sein. So ist auch das Kanalnetz in weiten Teilen des Landes derart veraltet, dass beim letzten Starkregen im August viele private Betreiber ihre Abwässer direkt in die Flüsse oder ins Meer leiten mussten. Viele Strände im Süden des Landes waren so sehr mit Fäkalien verschmutzt, dass sie für Besucher gesperrt werden mussten.

Was von staatlicher Versorgung noch übrig ist, wurde in den letzten Jahren konsequent totgespart. Ambulanzen warten stundenlang vor den Spitälern, weil deren Notaufnahme überfüllt ist. Die Konservativen werden die Krise des Gesundheitssystems geschickt zu nutzen wissen, um auch das National Health Service zu privatisieren. Im Winter werden immer mehr Menschen in die Armut abrutschen. Bei steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen lautet die Frage für viele nun "heat or eat", essen oder heizen.

Wie lange lassen sich das die Leute noch gefallen? Die Schotten, und vielleicht auch die Nordiren und Waliser, könnten sich in naher Zukunft von England loslösen. Vielleicht beerdigt König Charles als Nächstes das Vereinigte Königreich. Ob sich dafür noch ein Staatsbegräbnis ausgeht? Bis dahin wird auch er landauf, landab rote Bänder durchschneiden, denn so gehört sich das. Die Monarchie bleibt einstweilen das Trostpflaster der Briten. (Philippe Narval, 18.9.2022)