Es ist mehr als elf Jahre her, seit Viktor Orbán begonnen hat, die EU-Partner immer wieder mit Rechtsbrüchen, Grundrechtsverletzungen, Verstößen gegen Pressefreiheit und Angriffen auf die unabhängige Justiz in seinem Land zu provozieren. 2010 zum ungarischen Premierminister gewählt, dauerte es nur Monate, bis er sich als autoritärer Politiker erwies, dem EU-Verträge und internationale Konventionen egal sind, wenn er seine Interessen und die seiner Fidesz-Kumpel durchsetzen will.

Seither gab es viele Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, Anzeigen, Ermahnungen der EU-Kommission, auch Strafen. Oft lenkte Orbán in letzter Minute ein, folgte Aufforderungen zu Gesetzesänderungen. Aber er hörte nie auf mit immer neuen Rechtsverstößen, ignorierte Appelle von EU-Regierungen, Parlament oder Kommissaren.

So gesehen könnte man meinen, die jüngste Drohung der Kommission, Budapest die Fördergenehmigung für nicht weniger als 7,5 Milliarden Euro aus drei Kohäsionstöpfen zu verweigern, komme etwas spät. Warum nicht schon früher? Die Frage nach der Dringlichkeit ist nicht ganz falsch. Tatsächlich hätten die Mitgliedsstaaten schon vor Jahren zur schärfsten Waffe greifen können, die die EU-Verträge für vorsätzliche Grundrechtsverletzer vorsehen.

Die Union muss präzise nach EU-Recht gegen Orbán vorgehen.
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In Artikel 7 AEUV ist das beschrieben. Die Staats- und Regierungschefs müssten "nur" einstimmig beschließen, dass eine notorische Grundrechtsmissachtung vorliegt. Nach einem komplexen Verfahren hätte man Ungarn dann genau zu definierende Stimmrechte in EU-Gremien entziehen können. Da Ungarn und Polen sich wechselseitig die Mauer machten und mit einem Veto die erforderliche Einstimmigkeit blockieren wollten, kam es aber nie dazu.

Schwerwiegende Sanktionen

Das mochten manche, die auf schnelle Bestrafung Orbáns hofften, unerfreulich finden. Und das war es auch. Aber es ist entscheidend, anzuerkennen, dass die Gemeinschaft bei derart schwerwiegenden Sanktionen gegen ein Mitglied nur penibel nach den eigenen Rechtsregeln vorgehen kann – nicht willkürlich.

Deshalb war es auch ein Fehler, dass das Europäische Parlament vergangene Woche eine rechtlich irrelevante Erklärung beschloss, wonach Ungarn "keine Demokratie" mehr sei. Was soll aus so etwas folgen? Ein "Rauswurf" aus der EU, wie manche glauben? Sollen Politiker per Resolution ganze EU-Mitgliedschaften infrage stellen können?

Das wäre ein Irrweg. Staaten können aus der EU nicht ausgeschlossen werden, aber doch hart bestraft. Das wäre der Fall, wenn die Kommission eine erst 2021 eingeführte Regelung anwenden könnte, die den Erhalt von EU-Subventionen an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit konditional bindet.

Orbán hatte versucht, diese Regelung beim EuGH zu kippen. Dieser bestätigte aber Anfang des Jahres, dass sie juristisch sauber ist. 7,5 Milliarden Euro Förderung zu erhalten oder nicht träfe Orbán an empfindlicher Stelle, wäre in Zeiten der Krise kein Pappenstiel.

Aber es ist bisher nur ein Vorschlag, den die Regierungschefs bzw. der Ministerrat jetzt erst einmal bestätigen müssen. Orbán hätte jederzeit die Möglichkeit einzulenken. Tut er es nicht, wird und muss die Strafe wehtun. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Aber der Weg, präzise nach EU-Recht vorzugehen, ist goldrichtig. Es macht den Unterschied zum Rechtsbeuger Viktor Orbán aus. (Thomas Mayer, 18.9.2022)