Die mehr als 440 in einem Wald in Isjum entdeckten Leichen sollen exhumiert werden. Bisher wurden 60 von ihnen geborgen.

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Der Schock sitzt tief, auch drei Tage später. Die mehr als 440 entdeckten Leichname in einem Wald im vor kurzem zurückeroberten Isjum lassen vielen Politikern keine Ruhe, sie fordern Aufklärung, sie fordern Gerechtigkeit. Der tschechische Außenminister Jan Lipavský, dessen Land derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, verlangte am Wochenende die Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunals. "Im 21. Jahrhundert sind solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung undenkbar und abscheulich. Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. "Ich rufe zur raschen Einsetzung eines speziellen internationalen Tribunals auf, das die Verbrechen verfolgt", twitterte Lipavský.

Auch die USA verurteilten die "abscheulichen" Leichenfunde. "Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. Die US-Regierung werde weiterhin die Bemühungen unterstützen, russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren, um schließlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.

Neue Bestrafung gefordert

Bereits am Freitag hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angesichts der Funde in Isjum eine Bestrafung Russlands wegen Kriegsverbrechen gefordert. Die Welt dürfe nicht zusehen, wie der "Terrorstaat" Russland töte und foltere, so das Staatsoberhaupt. Moskau müsse mit noch härteren Sanktionen bestraft werden.

Einen Tag später warf er Russland in einer Videobotschaft grausame Folter vor. Mittlerweile seien in den durch die ukrainische Gegenoffensive zurückeroberten Gebieten mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten entdeckt worden. So sollen Selenskyj zufolge Menschen mit Drähten und Stromschlägen gequält worden sein. Und auch bei den in Isjum entdeckten Leichen wiesen einige von ihnen Folterspuren auf.

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht forderte ebenfalls Aufklärung – "am besten durch die Vereinten Nationen", wie sie der Funke-Mediengruppe sagte. Die Uno sollte schnellstmöglich Zugang bekommen, um Beweise zu sichern, erklärte sie. Geplant ist solch ein Besuch bereits, sagte Liz Throssell, Sprecherin des UN-Menschenrechtsbüros (UNHCHR). Wann dieser stattfinden könne, sei aber noch unklar.

Vergleich mit Butscha

Der grauenhafte Fund in Isjum wird immer wieder mit jenem im März im Kiewer Vorort Butscha verglichen. Dort wurden nach dem Abzug russischer Truppen hunderte getötete Zivilisten gefunden – teilweise mit Folterspuren und gefesselten Händen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat daraufhin das bisher größte Expertenteam ins ukrainische Kriegsgebiet entsandt.

Da die Ukraine 2014 die Rechtsprechung des IStGH auf seinem Boden akzeptiert hat, kann der britische Chefankläger mit seinem Team im kriegsversehrten Land arbeiten – zumindest dort, wo es die Sicherheitslage zulässt.

Russland hingegen hat das Römische Statut von 1998 nicht unterzeichnet und respektiert damit die Rechtsprechung des IStGH nicht – was die Strafverfolgung der Verantwortlichen russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine erheblich erschwert. (Kim Son Hoang, 18.9.2022)