Christian Wehrschütz bei der Arbeit.

Foto: Wehrschütz

Wien – Technische Probleme, ein schneller Live-Einstieg in der Mittags-"ZiB" oder eine Kuh, die plötzlich auf der Straße steht, wenn Christian Wehrschütz mit seinem Drei-Mann-Team im Auto unterwegs ist: Mit dem ORF-Korrespondenten ein telefonisches Interview zu führen ist nicht so einfach. Getrieben von den Kriegsereignissen, ist Wehrschütz seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine 100.000 Kilometer mit dem Auto gefahren. Um die "Geschichten hinter der Geschichte" zu erzählen, hat der 60-jährige "Star Wars"-Fan ein Buch geschrieben, das Einblicke in seine Arbeit liefert. "Mein Journalistenleben. Zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria" (Keiper-Verlag) erscheint Anfang Oktober.

STANDARD: Wir sind jetzt im achten Kriegsmonat, und Sie befinden sich praktisch im Dauereinsatz. Woher nehmen Sie die Zeit, nebenbei ein Buch zu schreiben?

Wehrschütz: Ich habe den Großteil des Buches bereits in den ersten drei Jänner-Wochen geschrieben, als ich noch nicht im Einsatz war, sondern auf Reha in Bad Gleichenberg. Wissend, dass sehr viel passieren kann. Und zweitens verdanke ich diese Möglichkeit auch meiner Gattin. Die hat mir vor Jahren gesagt: Lege einen Ordner im Laptop an, der wie eine Art Tagebuch ist. Der heißt Splitter. Dort schreibe ich diese Denkwürdigkeiten und Episoden hinein als eine Art Spickzettel. Es war auch viel weniger schwierig als meine ersten Bücher, die einen analytischen Charakter über den Balkan hatten.

Das Buch (Keiper-Verlag) erscheint am 5. Oktober.
Foto: Keiper/ORF

STANDARD: Technische Herausforderungen sind ein ständiger Wegbegleiter, um auf Sendung gehen zu können. Wie schwierig ist es, die Nerven zu bewahren?

Wehrschütz: Wir haben drei Hotspots mit drei verschiedenen Providern. Mein eigener, der meines Fahrers und jener des Kameramanns. Manchmal friert dir das Bild ein, oder man ist ganz weg. Du musst dir einen ruhigen Platz suchen. Sie müssen das etwas fatalistisch sehen. Ich kann auf Holz klopfen, dass bisher wahrscheinlich von 100 Live-Einstiegen 95 funktioniert haben. Sie müssen sich damit abfinden, dass etwas nicht geht oder nicht so gut. Es ist nicht realistisch, aus Krisengebieten eine Qualität zu erwarten wie aus einem Studio. Solange mich die Menschen sehen oder verstehen, ist es akzeptabel.

STANDARD: Sie schreiben, dass Sie allein im ersten Kriegsjahr 2014 zehn Patschen hatten, weil die Straßen so schlecht sind. Wie gut können Sie mittlerweile Reifen wechseln?

Wehrschütz: Es gibt nichts, was ein österreichischer Milizoffizier nicht kann. (lacht) Mittlerweile ist es aber einfacher. Selenskyj hat versucht, die Straßen besser zu machen. Da hat auch Korruption eine Rolle gespielt, aber egal, wenigstens sind die Löcher verschwunden. Bei den Patschen haben wir auch selbst welche gewechselt, wir haben aber immer irgendjemanden gefunden, bei dem du das Auto auf die Hebebühne stellen konntest. Zweimal war es sehr unangenehm, weil es in gefährlichen Situationen passiert ist, darunter einmal am Flughafengelände von Donezk. Wir sind aber immer davongekommen. Seit Mitte Februar 2022 sind wird 100.000 Kilometer gefahren. Da gehört auch Glück dazu.

Das Dreierteam in der Ukraine (von links): Igor Krilew (Fahrer und Produzent), ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz und Nenad Dilparic (Kamera).
Foto: Wehrschütz

STANDARD: 100.000 Kilometer voller Tod, Zerstörung, menschlichem Leid. Welches Ventil haben Sie, um das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten?

Wehrschütz: Schauen Sie, es ist keine Lösung, zum Zyniker zu werden. Aber eine meiner Bilanzen aus den gescheiterten Friedensverhandlungen von Minsk ist, dass den Konfliktparteien die Lage ihrer eigenen Bevölkerung eher egal war als der internationalen Gemeinschaft, die dort vermittelt hat. Wie ich damit umgehe? Du darfst nicht parteiisch werden. Du musst eine gewisse innere Distanz wahren bei aller Erschütterung, die du hast, wenn etwa Kinder sterben. Manchmal habe ich auch versucht, persönlich zu helfen, ich bin aber keine Hilfsorganisation. Wir haben auch bei Evakuierungen mitgemacht, wo das möglich war. Du musst dir im Klaren sein, dass du nicht in der Lage bist, das Elend zu kurieren, das entsteht. Entweder du hast die Kraft, das auszuhalten, oder nicht. Ich habe mit einem leisen Lächeln zur Kenntnis genommen, dass alle von Traumatisierten reden, mein Arbeitgeber hat mich in 22 Jahren noch nie gefragt, ob ich traumatisiert wäre. (lacht)

STANDARD: Lässt Sie der ORF im Stich?

Wehrschütz: Nein. Und ich hoffe, dass ich nicht traumatisiert bin. Für mich ist der große Ausgleich natürlich die Familie, mit der ich ein ganz anderes Leben führe. Wenn Sie aus den Kriegsgebieten in der Ukraine rauskommen und in Österreich sind, dann ist es nicht die Artillerie, wenn es donnert, sondern nur ein Gewitter. Das ist ein anderes Leben, und Sie stellen sich auch darauf ein, wenn Sie zurückfahren.

STANDARD: Fällt es Ihnen jetzt leichter als vor 20 Jahren, das Leid nicht heranzulassen? Im Vergleich zur Anfangszeit, als Sie begonnen haben, vom Balkan zu berichten?

Wehrschütz: Nein, du wirst nicht zynisch, und du wirst nicht jemand, der sagt, mir ist das egal. Und du wirst schon gar kein Voyeur, das war ich auch am Balkan nicht und bin es heute nicht. Ich habe immer versucht, gewisse Pietät zu wahren. Gerade etwa auch beim Abschuss der MH17 über der Ostukraine, als wir nur einen Bruchteil der Bilder auf Sendung gebracht haben, die wir dort gedreht hatten, weil wir nicht wollten, dass die Angehörigen zu Hause im Internet sehen, was aus ihren Verwandten geworden ist. Generell bin ich aber ein Anhänger der härteren Kriegsberichterstattung. Man soll den Österreichern zeigen, was Krieg ist und dass Krieg mehr ist als nur zerstörte Häuser und Ruinen. Abgehärtet in dem Sinne, dass du sagst: Egal, wieder drei Tote, das bin ich nie geworden, und das hielte ich auch für falsch.

Christian Wehrschütz nach dem Abschuss der malaysischen Boeing in der Ostukraine am 17. Juli 2014. Alle 298 Insassen kamen ums Leben.
Foto: Wehrschütz

STANDARD: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Pietät und Aufklärung, zwischen Zumutbarkeit und Schutz der Angehörigen und des Publikums?

Wehrschütz: Wir werden nicht das verzerrte Gesicht eines getöteten Soldaten oder eines getöteten Zivilisten zeigen, sondern nur unter Wahrung der Pietät, etwa durch Verpixelung des Gesichtes: Krieg fordert Opfer. Opfer heißt Tote, und warum soll man im Fernsehen nicht auch Leichen zeigen?

STANDARD: Auch in Nachrichtensendungen wie der "ZiB 1" um 19.30 Uhr?

Wehrschütz: Ich habe das beim letzten Mal in der "ZiB 1" durchaus gezeigt.

STANDARD: Es gab ja zu Kriegsbeginn die Debatte, als die "New York Times" die Leichen ukrainischer Zivilisten am Cover hatte und sie unverpixelt gezeigt hat.

Wehrschütz: Wenn man die Gesichter verpixelt, sehe ich nicht ein, warum das zu viel sein soll. Wir leiden sowieso schon viel zu sehr unter der Hollywoodisierung des Krieges. Wo einer eine Handgranate wirft und du dahinter eine Explosion hast, wie wenn es eine Tankstelle erwischt. Was alles überhaupt nicht stimmt. Jeder, der einmal gedient und eine Handgranate geworfen hat, weiß, dass das "pflopf" macht, Splitter fliegen herum, und das war es. Es gibt keinen Rauch, keine Pyrotechnik. Ich bin der Meinung, wir sollen angemessen, aber durchaus zeigen, dass Krieg eben mit massiven Toten und massivem Elend verbunden ist. Was ist eine größere Verletzung der Pietät? Dass ich ein Close-up von einer Frau mache, die schreit und weint, weil sie ihre Verwandten verloren hat, oder dass ich einen Toten zeige? Ich finde, ich verletze die Pietät der Frau viel stärker.

Live-Einstieg vom Flughafen Donezk.
Foto: ORF/Wehrschütz

STANDARD: Die "New York Times" hatte die Toten unverpixelt gezeigt.

Wehrschütz: Ich kann mich an die Debatte erinnern. Ich hätte sie nicht unverpixelt gezeigt, denn in Zeiten der Digitalisierung kann das jeder sehen, und das sollte nicht passieren.

STANDARD: Ihr journalistisches Credo ist, dass es kein Schwarz und Weiß gibt, sondern viele Grautöne. Können Sie das anhand des Ukraine-Krieges erklären?

Wehrschütz: Die generelle Feststellung des Ukraine-Krieges ist wichtig: Russland ist der Aggressor. Das ändert aber an zwei Punkten nichts. Auch dieser Krieg hat eine Vorgeschichte, die möglicherweise sogar bis zum Zerfall der Sowjetunion zurückreicht, auf jeden Fall aber bis hin zur Frage der Nato-Osterweiterung, wo auch den westlichen Staatslenkern und der ukrainischen Führung klar sein musste, was das für ein sensibles, entscheidendes Thema für die Russen ist. Das ist noch keine Rechtfertigung der Aggression, aber der Weg zu dieser Katastrophe, zu diesem Krieg ist mit sehr vielen Politikern gepflastert und nicht nur mit Wladimir Putin.

STANDARD: Und zweitens?

Wehrschütz: Wenn Sie die Frage zu beurteilen haben, wer hat jetzt Saporischschja beschossen oder wer spielt welches politische Spiel mit diesem Kraftwerk, dann ist das etwas, wo beide Kriegsparteien Interessenlagen haben. Das haben Sie genauso zu bewerten, wie Sie einen Verkehrsunfall zu bewerten haben. Und zwar ohne Zorn und Eifer, sondern mit Check, Re-Check und Double-Checks. Wer hat im konkreten Fall wirklich geschossen? Das kann ich mir nicht mit dem Argument ersparen, dass Russland der Aggressor ist. Das gilt für jede Berichterstattung über tatsächliche oder vermeintliche Verbrechen oder Massenmorde.

STANDARD: Und Kriegsverbrecher.

Wehrschütz: Ich arbeite seit 22 Jahren auf dem Balkan, und bis zur Verurteilung von Radovan Karadžić und Ratko Mladić war klar, wir müssen von mutmaßlichen Kriegsverbrechern sprechen, obwohl es keinen Zweifel gab, wer für Srebrenica verantwortlich ist. Diesen journalistischen Standard muss ich auch für die Ukraine einfordern. Nicht aus irgendwelchen Sympathien, sondern aus Vorfällen, wo man draufgekommen ist, dass die vom ukrainischen Parlament selbst abgewählte Ombudsfrau es mit der Wahrheit nicht so genau genommen hat. Auch da muss ich von Fall zu Fall beurteilen, was tatsächlich passiert ist. Das ist nicht mein Krieg. Ich als Journalist habe nicht die Aufgabe, der österreichischen Bevölkerung irgendwas vorzugeben, sondern ich versuche ein Bild von dem zu zeichnen, was dort passiert ist. Und zu schauen, wie ich es bewerten kann.

STANDARD: Zum Beispiel?

Wehrschütz: Wenn etwa der ukrainische Außenminister (Dmytro Kuleba, Anm.) schreibt, und das war einer der Tweets, auf die ich geantwortet habe, die Verbrechen in Butscha sind die größten Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg, dann muss man dem Herrn Außenminister sagen: Tut mir leid, aber Sie haben Srebrenica vergessen. Dort sind in einer Woche 8.000 Leute umgebracht worden. Ich muss in der Wortwahl differenzieren: Wenn alles ein Massaker ist, ist nichts ein Massaker. Sage ich bei fünf oder zehn Leuten, die umgebracht wurden, so schlimm das auch ist, dass es ein Massaker ist, was sage ich dann zu Srebrenica oder zu Butscha, wo hunderte Leute in einem Massengrab liegen? Ich muss mit den Begriffen sorgsam umgehen, um sie nicht zu entwerten.

STANDARD: Deswegen verwenden Sie auch immer das Wort "mutmaßlich" – etwa auch im Zusammenhang mit Butscha?

Wehrschütz: Ja, das ist keine Frage der Sympathie für jemanden, aber solange das nicht erhoben ist, muss das so sein. Wir haben ewig beim Abschuss der MH17 über der Ostukraine dazugesagt, dass Russland das bestreitet, obwohl ich nach all meinen Recherchen felsenfest davon überzeugt bin, dass Russland das Raketensystem geliefert hat, das dort fatalerweise zum Einsatz gekommen ist. Es war keine Absicht, dass die eine Passagiermaschine abschießen, aber passiert ist es halt.

STANDARD: Ihnen wird öfter vorgeworfen, auf der Seite Russlands zu stehen. Was sagen Sie den Kritikerinnen und Kritikern?

Wehrschütz: Erstens einmal ist das ein Schwachsinn, ganz generell. Und zweitens: Was heißt das? Wenn Sie ein konkretes Beispiel haben, dass dieser Bericht jetzt auf die russische Seite fällt, dann kann man darüber reden. Generelle Anschuldigungen kann ich leicht erheben. Dazu brauche ich nicht einmal Stellung nehmen, weil das so dumm und oberflächlich ist.

STANDARD: Sie haben einen Grazer Schriftsteller geklagt, weil der Ihnen vorgeworfen hat, Sie seien eine Marionette Putins und würden russische Propaganda verbreiten, nachdem Sie einen Cartoon geteilt hatten.

Wehrschütz: Und wie Sie wissen, musste er diesen Vorwurf der Marionette, der Putinette mit Bedauern zurücknehmen. Das hat er schon twittern müssen. Gerade die Karikatur mit dem Tom und Jerry ist nichts Prorussisches, sondern eine Kritik an der Politik des Westens, um ein Beispiel zu nennen. Ein ukrainischer Politologe hat im Jahre 1993 einen Artikel geschrieben: "Die Ukraine zwischen westlicher Ignoranz und russischem Hegemoniestreben". Das gilt bis heute. Viele Länder im Westen haben mit der Ukraine nie etwas anfangen können. Oder glauben Sie, dass die französische Landwirtschaftslobby bereit ist, ein Land wie die Ukraine in die EU aufzunehmen, damit man dort die Landwirtschaftssubventionen teilt, die die französischen Bauern mit allen Mitteln verteidigen? Das ist einfach nur oberflächlich und dumm.

STANDARD: Wo setzen Sie die Grenze, wann Sie klagen? In dem Fall war das die Marionette Putins?

Wehrschütz: Nein, die Marionette Putins war mir völlig egal. Aber die Tatsache, dass er Postings gemacht hat, wo er meinen Familiennamen mit Z (dem russischen Zeichen für den Angriff auf die Ukraine, Anm.) geschrieben und Russland mit SS geschrieben hat und so weiter, wo das alles in Richtung Nationalsozialismus vermengt wurde – bei dem Punkt haben mein Rechtsanwalt und ich gesagt: Stopp, da geht es nicht weiter. Der zweite Punkt: Als ORF sind wir gesetzlich zur Objektivität verpflichtet. Im Gegensatz zu Zeitungsjournalisten. Der Vorwurf, dass ich nicht den Objektivitätsgeboten folge, ist auch ein Vorwurf der Verletzung meines gesetzlichen Auftrags. Ich habe seit Kriegsbeginn 29 Stunden Programm produziert, und dann kommt jemand daher und generalisiert anhand von einigen Sekunden und sagt, du bist parteiisch.

Es geht auch um eine gewisse Abschreckungswirkung. Wir sind nicht Leute, und das gilt für die gesamte Berufsgruppe, die man ungestraft anschütten können soll. Ich halte das auch auf Facebook so. Wenn jemand schreibt: "Herr Wehrschütz, das war nicht richtig" oder "Da haben Sie sich geirrt", dann argumentiere ich das bis zum Letzten durch. Es muss aber ein gewisses Kommunikationsniveau von der Höflichkeit her gewahrt werden.

STANDARD: Sie haben vor ein paar Wochen einen Beitrag über eine österreichische Sanitäterin gemacht, die als Söldnerin in der Ukraine arbeitet, und sie als Olga Kalaschnikowa bezeichnet. Ist das Ihr Humor?

Wehrschütz: Nein, in dem konkreten Fall stand ich vor der Frage, ob ich ihre Identität völlig verschleiern soll. Das ist ein Wiegel-Wogel, weil: Wenn ein Österreicher im Ausland als Söldner tätig ist oder in fremden Streitkräften dient, das ist auch bei einer Sanitäterin so, dann verliert er seine österreichische Staatsbürgerschaft. Ein Teil der Vereinbarung für das Interview war, ihre Identität nicht zu zeigen. Das habe ich aber auch aus einem anderen Grund nicht gemacht. Sie hat drei Kinder in Österreich und drei in der Ukraine. Ich will nicht, dass irgendwelche Schulkollegen in Wien sagen: Deine Mutter kümmert sich nicht um dich, dafür kämpft sie in der Ukraine. Und Kalaschnikow oder Kalaschnikowa ist ein in der Ukraine oder in der Postsowjetunion verbreiteter Name.

STANDARD: Mit martialisch hat das nichts zu tun?

Wehrschütz: Natürlich assoziieren wir das mit der Waffe, aber ich möchte einen Namen finden, der so verbreitet ist, dass er keine Rückschlüsse auf die Person zulässt. Mit Humor hat das jedenfalls nichts zu tun gehabt.

STANDARD: Sie sind kein Dressman, sondern Journalist, schreiben Sie, und die Kleidung sollte nicht vom Beitrag ablenken. Sie werden aber immer wieder auf Ihren Kleidungsstil angesprochen. Etwa nach dem Interview in dem karierten Sakko, das Sie mit dem damaligen Außenminister Sebastian Kurz geführt hatten. Haben Sie seitdem Ihren Stil geändert?

Wehrschütz: Nein. So ein Sakko ziehe ich normalerweise nicht für ein Interview an, aber nicht, weil ich mich dafür geniere, sondern weil es nicht ablenken soll. Gerade in Sendungen, die kurz sind: Wenn du ablenkst, ist die ganze Sendung weg. Und möglicherweise auch der Beitrag danach. Ein von mir sehr geschätzter Chefredakteur hat einmal gefragt, was er mir zahlen soll, damit ich meine grüne Haube nicht mehr trage. Ich habe gesagt: Den Preis gibt es nicht.

Christian Wehrschütz und das Sakko des Anstoßes.
Foto: ORF

STANDARD: Kulant im Ton, hart in der Sache: So beschreiben Sie die Interviewtechnik. Was würden Sie Wladimir Putin fragen, wenn es die Gelegenheit gäbe?

Wehrschütz: Da gibt es natürlich eine Menge von Fragen, auch wenn ich nicht für Russland zuständig bin. Zum Beispiel: Er ist jetzt mehr als 20 Jahre russischer Präsident. Wo war Russland wirtschaftlich vor 20 Jahren, und wo war China vor 20 Jahren? Warum gibt es heute so gravierende Unterschiede, obwohl Russland ein derart rohstoffreiches Land ist? Dahinter steckt viel mehr als nur Wirtschaft. Das hat auch mit Korruption zu tun. Ich würde ihn auch fragen, warum er der Meinung ist, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist und nicht der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der zum Zerfall des Russischen Reichs, zum Bürgerkrieg und allen anderen Dingen geführt hat. Dahinter steht nicht nur die Geschichte, sondern Denkweisen. Und der Vergleich zwischen der Entwicklung Russlands und Chinas fällt für Putin nicht sehr schmeichelhaft aus.

STANDARD: Was noch?

Wehrschütz: Da gibt es sehr viele Dinge, die man ihn fragen kann. Wie stellt er sich vor, dass je wieder ein normales Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland möglich sein kann nach den vielen Toten und Zerstörungen? Ich glaube nicht, dass es einmal zu einem Interview kommen wird, und es gibt gewisse Einschränkungen, wenn man ein Büro in Kiew hat, mit wem man ein Interview anleiern soll. Sie haben auch in der Ukraine eine veritable Militärzensur. Man ist hier in vielen Fällen nicht gerade populär, wenn man nicht nur in eine Richtung berichtet, sondern versucht herauszufinden, was tatsächlich passiert. Dann brauchen Sie sich nicht noch eine zusätzliche Flanke aufmachen.

STANDARD: Sie haben auch einen schweren Stand in der Ukraine?

Wehrschütz: Derzeit geht es, aber meine Aufgabe ist es nicht, beliebt zu sein. Wenn ich mich entscheiden muss, ob mich jemand mag oder ich ein Interview bekomme und seriös berichte, dann ist es überhaupt keine Frage, dass ich nur die seriöse Schiene fahre. Der ukrainische Außenminister soll über meinen Tweet, dass er bei allem Respekt nicht Srebrenica vergessen soll, nicht sehr erfreut gewesen sein. Es ist nicht meine Aufgabe, jemandem eine Freude zu bereiten, außer meiner Familie.

STANDARD: Hat das Konsequenzen, dass Sie beispielsweise deswegen kein Interview mehr mit ihm bekommen?

Wehrschütz: Ich habe nicht angesucht, aber an die Leute in der Ukraine, mit denen ich gerne ein Interview machen würde, an die bin ich nicht herangekommen. Das ist zum Beispiel der Generalstabschef, aber vielleicht geht es ja nach dem Krieg. Diese Leute reden jetzt begreiflicherweise nicht gerne mit Medien.

STANDARD: Was ist mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj? Sie wohnen in Kiew ja in seiner Nähe, oder?

Wehrschütz: Wir sind Nachbarn. Sie müssen sich im Klaren sein, dass Österreich ein Land ist, das für die Ukraine keine Bedeutung hat. Es gab einen einzigen Österreicher, der seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein Interview mit einem US-Präsidenten geführt hat, und so weiter. Leute haben einen Terminkalender und schauen, ob das Land für sie wichtig ist oder nicht. Österreich lässt zwar Rüstungstransporte für die Ukraine durch, liefert aber selbst keine Waffen. Ein Sender wie CNN hat einen ganz anderen Status in der Ukraine als ich.

STANDARD: Was aber nichts mit dem Einreiseverbot zu tun hat, das es 2019 gegen Sie noch unter Petro Poroschenko (von 2014 bis 2019 Präsident in der Ukraine, Anm.) gegeben hatte?

Wehrschütz: Nein, das glaube ich nicht. Viel mehr bin ich der Ansicht, dass meine Kritik am Umgang des Präsidenten mit den Medien eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich habe die Medienpolitik des Herrn Poroschenko kritisiert, und man wird auch bei Präsident Selenskyj nach Kriegsende sehr genau aufpassen müssen, wie sehr und wie weit er demokratische Grundfreiheiten wiederherstellt.

STANDARD: Die derzeit nicht existieren?

Wehrschütz: Die massiv eingeschränkt werden. Das kritisiere ich auch an der Berichterstattung zur Ukraine. Nur – unter Anführungszeichen – weil das Land von den Russen angegriffen wurde, sind die Grundprobleme nicht verschwunden. Das sind autoritäre Tendenzen, Korruption und eine Justiz, die nicht unabhängig ist. Und es gibt eine massive Militärzensur. Das sehe ich bis zu einem gewissen Grad ja ein, aber bei vielen Dingen müssen wir schauen, was nach dem Krieg passiert. Schließlich ist die Ukraine ein Land, das vorgibt oder darstellt, europäische, westliche Werte zu verteidigen, und dazu gehört ein klares Bekenntnis zu Grund- und Freiheitsrechten.

STANDARD: Im Jahr 2019 hat Ihnen die damalige Außenministern Karin Kneissl von der FPÖ geholfen, als Sie die Ukraine mit einem Einreiseverbot belegt hatte. Wie?

Wehrschütz: Sie und andere Diplomaten und Politiker haben das international und in der EU thematisiert. Es hat mir aber auch ganz Österreich geholfen oder die "Kronen Zeitung", gewisse Medienwachhunde oder die österreichische Botschafterin Kiew, die gesagt hat: Kinder, was macht ihr für einen Blödsinn?! Noch dazu waren die Vorwürfe gegen mich an den Haaren herbeigezogen und hatten nichts mit der Realität zu tun.

STANDARD: Kneissls Hofknicks vor Putin bei ihrer Hochzeit 2018 hat dem Ansehen Österreichs massiv geschadet und Ihnen die Berichterstattung aus der Ukraine erschwert, schreiben Sie. Wie hat sich das geäußert?

Wehrschütz: Österreich galt damals neben anderen Staaten als fünfte Kolonne Putins in der EU. Der Knicks beim Tanzen, so sehr er möglicherweise der Etikette entsprochen hat, ich meine: Als Außenministerin muss ich wissen, was so ein Bild auslöst. Und noch dazu, wenn nur das russische Staatsfernsehen eingeladen war und keine anderen österreichischen Medien dabei sein durften. So etwas darf mir als Außenministerin nicht passieren – bei aller Dankbarkeit, dass sie sich für mich persönlich eingesetzt hat. Österreich galt damals, und nicht nur wegen der türkis-blauen Regierung, sondern bereits vorher, als Feindstaat. Das habe ich selbst erlebt bei Gesprächen mit dem Umfeld Poroschenkos, weil diese Leute nicht wussten, wer ich bin. Die haben aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht.

STANDARD: Sie hatten sich 2011 als ORF-Generaldirektor beworben und in Ihrer Bewerbung geschrieben, dass die Sendezeit der "Zeit im Bild" bis 20.15 oder 20.30 Uhr ausgeweitet werden sollte. Ist der Wunsch noch da, längere Beiträge für die "ZiB" gestalten zu können?

Christian Wehrschütz bewarb sich 2011 für die Funktion des ORF-Generaldirektors. Er wurde von ORF-Stiftungsräten zum Hearing eingeladen, unterlag aber Alexander Wrabetz.
Foto: Christian Fischer

Wehrschütz: Die Welt wird immer komplexer, und die Nachrichtensendungen werden kürzer. Es geht nicht um die Frage, ob ich für eine Sendung einen Beitrag länger gestalten will, sondern dass alles komplexer wird, sich die Welt aber immer mehr auf die Twitter-Blase reduziert. Das spielt dem Populismus in die Hände. Je kürzer eine Sendung oder ein Artikel werden, desto mehr gebe ich den simplen Vereinfachern einen Spielraum, weil – jetzt unter Anführungszeichen – "Du Trottel" zu sagen ist viel einfacher, als einen komplizierten Sachverhalt zu erklären. Daher habe ich das in meiner Bewerbung drinnengehabt. Ich wünsche mir auch, und da bin ich nicht der Einzige, dass wir wieder einen "Auslandsreport" haben.

STANDARD: Sie werden jetzt 61 Jahre alt. Ist die Lust noch ungebrochen weiterzumachen?

Wehrschütz: Ich bin mit Leib und Seele Auslandskorrespondent.

STANDARD: Und Sie werden es noch länger bleiben?

Wehrschütz: Nach dem jetzigen Stand: ja. Und wenn ich es kann, werde ich in dieser Funktion in Pension gehen. (Oliver Mark, 20.9.2022)