Russland rechtfertig das militärische Eingreifen in der Ukraine – im Bild ein Raketenangriff auf Mariupol im März – mit dem Vorgehen gegen einen angeblichen Genozid in der Ostukraine.

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Bald, am 24. September, ist es genau sieben Monate her, dass russische Truppen die Ukraine neuerlich überfallen haben. Unter anderem mit der zweifelhaften Begründung, einen "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung im ostukrainischen Donbass "stoppen" zu wollen.

Die Ukraine hat diese Anschuldigung stets bestritten und erhebt ihrerseits schwere Vorwürfe: Russland, das die Konvention zur Vermeidung und Bestrafung von Völkermord unterschrieben hat, missbrauche diese als Vorwand für seinen als "Spezialoperation" getarnten Krieg in der Ukraine. Das soll auch niemand Geringerer als jenes Gericht, das über die Einhaltung und Auslegung der Völkermordkonvention wacht, festhalten: der Internationale Gerichtshof (IGH).

Das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen ist nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls in Den Haag ansässigen Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen soll. Denn der IGH belangt keine Einzelpersonen (wie Amtsinhaber), sondern regelt Streitigkeiten zwischen Staaten.

Westliche Partner wollen mitreden

An den IGH hat sich die Ukraine bereits im März gewandt – nun versuchen ihre westlichen Partner, die ukrainische Klage zu unterstützen und ihr mehr Gewicht zu verleihen. Frankreich hat vergangene Woche einen entsprechenden Antrag, eine sogenannte "Erklärung der Nebenintervention", an den IGH übermittelt. Auch Österreich ist im Begriff, einen derartigen Antrag zu stellen, heißt es auf STANDARD-Nachfrage aus dem Außenministerium. Schließlich hat Österreich wie Frankreich und sämtliche anderen westlichen Länder bereits im Mai auf Initiative Kanadas eine Erklärung zur Unterstützung der ukrainischen Klage gegen Russland unterzeichnet. Diese soll klarstellen, dass Russlands unbelegte Genozidanschuldigungen "keine rechtliche Grundlage für seine militärischen Maßnahmen in der Ukraine" schaffen und einen Missbrauch der Konvention darstellen.

Ori Pomson, Experte für Völkerrecht an der britischen Universität Cambridge, geht davon aus, dass es Jahre dauern wird, bis der IGH sein Urteil spricht. Er verfolgt die Entscheidungen des Gerichts mit großem Interesse: "Es ist juristisches Neuland, dass sich so viele Staaten mit einer Erklärung der Nebenintervention an den IGH wenden", erklärt Pomson im STANDARD-Gespräch.

Druck auf IGH

Sobald der IGH diese Erklärungen zulässt, könnten die Antragstellerstaaten ihre Argumente vorbringen, warum der IGH hier zuständig ist beziehungsweise inwiefern die Konvention missbraucht wurde. Die große Anzahl an Anträgen bedeute aber auch einen bürokratischen Mehraufwand für das Gericht. Pomson wertet dies in erster Linie als symbolische Unterstützung des Westens, die durchaus auch Druck auf den IGH ausüben soll, sich der Klage anzunehmen.

Die Ukraine hat nach Ansicht Pomsons durchaus gute Chancen, dass der Klage stattgegeben wird. Schließlich hat der IGH Russland in einer vorübergehender Maßnahme bereits im Frühjahr dazu aufgerufen hat, seine militärischen Aktivitäten in der Ukraine zu stoppen. Das Gericht sah es in dieser vorläufigen Erklärung als fragwürdig an, eine einseitige militärische Gewaltanwendung mit der Konvention zu rechtfertigen. Außerdem habe Russland keine Belege für einen Genozid vorgelegt. Einzig der chinesische Richter und der russische Vizepräsident des Gerichts stimmten gegen diese vorläufigen Maßnahmen. Russland zeigte sich von dem Entscheid allerdings unbeeindruckt: Die Urteile des IGH sind zwar bindend, doch eine Möglichkeit, das Urteil durchzusetzen, hat der IGH nicht.

Russischer Völkermord in der Ukraine?

In ihrem Schreiben an den IGH bezichtigte die Ukraine Russland ebenfalls, einen Genozid in der Ukraine zu planen. Staatsbürger der Ukraine würden bewusst getötet oder verletzt. Auch ukrainische Politiker haben mehrfach von "kulturellem Völkermord" gesprochen. Die grausamen Bilder von Massengrabfunden in Butscha oder Isjum verleihen diesen Anschuldigungen zwar Nachdruck. Doch in der Frage wurde noch kein Urteil gesprochen: Unter Rechtsexperten ist es höchst umstritten, ob der Versuch, eine Kultur zu zerstören, auch als Genozid gilt. Der Begriff beschreibt in erster Linie Handlungen, die in der Absicht begangen werden, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". So definiert es die Völkermordkonvention.

Ukrainische Gerichte haben zwar bereits einige russische Soldaten verurteilt – allerdings wegen Kriegsverbrechen. Der Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ermittelt derzeit wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord – darauf ist sein Mandat in der Ukraine beschränkt. Es gilt aber als äußerst unwahrscheinlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin dort dafür in absehbarer Zeit belangt werden könnte.

Der IStGH hat keine Polizeikräfte und ist bei der Durchführung von Festnahmen auf die Kooperation von Staaten angewiesen. Und in Abwesenheit von Angeklagten kann der Gerichtshof keine Prozesse führen. Doch andere Vertreter des russischen Staates – etwa Kommandanten oder Söldner – könnten künftig für Völkerrechtsverbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden, sollten sie etwa im Ausland aufgegriffen werden. (Flora Mory, 19.9.2022)