Roland Kaiser übt sich auf seinem neuen Album in seiner Kernkompetenz. Es handelt sich um die Liebe.

Foto: Paul Schirnhofer

Andere betiteln ihre Alben zu Beginn ihres achten Lebensjahrzehnts mit Adieu, das war’s – oder werden langsam miad (die 71-jährige Stefanie Werger). Roland Kaiser nennt seine neue CD Perspektiven. Da geht noch was.

90 Millionen Tonträger hat der deutsche Schlagersänger an viele Frauen und etwas weniger Männer gebracht. Die Fans blieben ihm treu, seine Ansager wechselten: Der forsche Verkäuferton eines Dieter Thomas Heck machte der schleimigen Überdrehtheit eines Florian Silbereisen Platz. Kaiser wurde im Lauf seiner Showbühnenjahrzehnte vom blonden Feschak zum zerknautschten Anzug tragenden Sir: eine Konstante Aftershave-umwehter Männlichkeit im zappeligen, grellbunten Gruselkabinett der televisionären Schlagerfeste.

Worüber singt Kaiser auf seinem 28. Album? Erst mal über die heilende Kraft der Liebe: "Selbst der kleinste Funken Liebe / Schenkt der Dunkelheit Licht". En passant bereitet er seine Anhänger auf ein Leben nach seinem Bühnentod vor: "Wenn ich geh irgendwann / Liebe bleibt".

Liebe ist beim 70-Jährigen aber keine rosarote, woke Wolke, auf der alle schweben, sie wird auf eine traditionelle Cis-Mann-Art konkret: "Für uns gibt es kein Tabu", stellt Kaiser fest und singt in seliger Erinnerung über Quickies im Kino und im Lift. In die Zukunft gerichtet träumt er vom Knutschen zu dritt (konkret: mit seiner Freundin und der Freundin seiner Freundin). Das Zeit-Feuilleton zeigte sich von der "sexpositiven" Attitüde des Sängers begeistert.

"Sind wir mal ehrlich, du brauchst einen Mann"

Kaisers präferierter Frauentyp ist – nun ja – eher Emmanuelle-haft: Sie soll "tief dekolletiert" sein und bestenfalls einen "süßen Duft" oder "einen Hauch von nichts" tragen. Die Partnerin soll raubkatzenhaft wild, aber trotzdem domestizierbar sein: "Sind wir mal ehrlich / Du brauchst ’nen Mann / Der dein Feuer steuern kann". Kaiser deklariert sich in "Perspektiven" als Anwalt sexueller Gemeinschaftlichkeit. Was ist absoluter Mist? "Wenn der Mensch, der dich berührt / Nur du selber bist" (Texter u. a. Peter Plate, Maite Kelly).

In päpstlicher Souveränität spricht Kaiser seine Anhänger von jeder Schuld frei: "Es ist alles okay / Was im Leben passiert". Sogar auf Querdenker geht der Brückenbauer mit einer ausgestreckten Hand fragend zu: "Hinter all dem Hass und den Parolen / Was hat dir dein Herz gestohlen". Der Tempomat ist bei Kaisers Songs größtenteils auf gemütlich eingestellt, der rockige Beat kommt aus dem Rechner; nur beim Song über den Knutsch-Dreier kommt ein Hauch von Stefan-Raab-Funk auf.

Ein bisschen Bilanzziehen muss zum Siebziger natürlich schon sein: "Ich bin zufrieden, bin angekommen", stellt er in der letzten der zwölf Nummern fest. In der Mitte des Albums gibt es vom Bassbariton auch selbstkritische Töne: Er habe manchmal "zu viel versprochen" und "zu viel davon gebrochen", gesteht Kaiser in "Eins musst du mir lassen". Zu dieser Reue-Ballade – das einzige Werk mit Moll-Anteilen – hätte die schneidende Stimme und die Pathosfähigkeit eines Udo Jürgens auch gut gepasst, aber der singt ja nicht mehr.

Am 27. November erzählt Roland Kaiser in der Wiener Stadthalle über die erregenden Perspektiven, die Liebe bieten kann. (Stefan Ender, 20.9.2022)