Jürgen Habermas (92) wird nicht müde, die Errungenschaften der "deliberativen" Demokratie zu verteidigen: die Kunst, Kompromisse auszuhandeln.

Foto: imago stock&people

Für die Dauer der vergangenen 60 Jahre durfte man auf folgende Einsicht vertrauen: Demokratien mochten Schwächephasen durchleben. Viele ihrer Staatsbürger litten periodisch unter Politikverdrossenheit; andere erlagen der Versuchung durch Rechtspopulisten. Immer aber galt das Prinzip: Der demokratische Verfassungsstaat ist dann krisenresistent, wenn er sich den Einsichten des Sozialphilosophen Jürgen Habermas (92) beugt – jener lückenlos vorgetragenen Überzeugung, wonach wir Demokraten uns, wenn wir Interessen untereinander abgleichen, dem "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" bereitwillig unterwerfen.

1962 veröffentlichte der Meisterdenker vom Starnberger See sein Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Fortan musste, wer das Wort "Demokratie" in den Mund nahm, im selben Atemzug den Begriff "Rechtsstaatlichkeit" hinzufügen. Die Öffentlichkeit aber bildet in Habermas’ vollendet vernünftiger Verfassungslandschaft den Herzgrund.

Allgemeiner Wettbewerb

Erst durch Öffentlichkeit besitzen demokratische Verfassungsstaaten einen allgemein zugänglichen Platz, auf dem sich ihre Bürger mit Infos ("Inputs") versorgen. Hier werden Staatsbürger mitwirkungsfit, hier konkurrieren Meinungen gegeneinander.

Hier dürfen Akteure der Zivilgesellschaft, aber auch Interessenvertreter und Parteien das Publikum – "die wahlberechtigte Bevölkerung" (Habermas) – von ihrer Problemlösungskraft überzeugen. Was aber tun, wenn besagte Öffentlichkeit, unter Missachtung der bisher geläufigen Diskursregeln, ins World Wide Web abwandert?

Wenn jetzt Habermas, selbst im Höchstalter stehend, buchweise einen "neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" ausruft, so müssen die Alarmglocken – nicht nur bei ihm – ohrenbetäubend schrillen. In seiner neuen Schrift legt er, so scheint es, die gutwillige Allgemeinheit noch einmal auf jene Prinzipien fest, derentwillen er ihr Vernünftigkeit bescheinigt. Er unterstellt ihr, bis ins Letzte verständigungsorientiert zu sein. Nur scheinen die Nutzer von Social Media sich um den "normativen Gehalt" ihrer Beiträge nicht zu bekümmern. Die bürgerliche Vorstellung von Massenkommunikation glich bis vor kurzem einem Muster ritterlicher Verständigung.

Ethisch verantwortlich agierende Medien beschäftigen "Gatekeeper", die aus den Informationsflüssen Material schöpfen. Aus ihm werden vernunftförmige Happen geformt. Bis vor kurzem las der Endverbraucher in der Zeitung seiner Wahl nach, woran er, zufolge eingefleischter Gewohnheiten, am ehesten Geschmack fand. Das umstürzend Neue liegt nun an der Bereitstellung von potenziell grenzenlosen Verknüpfungsmöglichkeiten: "Plattformen". Diese ermächtigen die Nutzer zu selbstständiger Autorschaft. Niemand ist mehr da, der das Material filtert oder redigiert. Die gleichmäßige Autorisierung der Nutzer zu eigenen, spontanen Beiträgen bildet die Kommunikation im Netz.

Doch leider: Anstatt sich zu emanzipieren, landen die Neo-Autorinnen in selbstbezüglichen Echoräumen. In diesen dröhnt es nur so vor "wüsten Geräuschen" (Habermas). Nichts deutet für den Philosophen auf einen reziproken Vernunftgebrauch hin, gar nichts auf einen Austausch von Argumenten. ("Auch die Autorenrolle muss gelernt werden", so Habermas.)

Nicht als Klicks

Die Blasen der einander zustimmungspflichtigen User treiben anschlusslos im Raum. Zur gleichen Zeit verwerten Facebook, Youtube und Co die Daten, die ihre Kunden im Netz hinterlassen haben. Die plebiszitäre "Öffentlichkeit" ist zu Gefallens- und Missfallensklicks abgerüstet. Eine "inklusiv auftretende" Öffentlichkeit wird man sie darum auch nicht nennen können.

Was aber tun, wenn Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausreichend mit qualitativ gefilterten Meinungen gefüttert werden? Auf ein neues Wettbewerbsrecht möchte Habermas lieber nicht vertrauen. Er schlägt stattdessen vor, die Plattformen für die Verbreitung irriger Informationen ("Fake News") haftbar zu machen genauso wie herkömmliche Anbieter von Neuigkeiten auch.

Die Gattung der Qualitätspresse hingegen erklärt er reif für den Artenschutz ("Hilfe öffentlicher Unterstützung"). Und so verwandelt der x-te Strukturwandel die demokratische Öffentlichkeit in etwas rührend Schützenswertes: einen Tiergarten mit artgerechter Haltung. Habermas’ Konzept scheint auf die neue Herausforderung bis auf weiteres keine schlüssige Antwort parat zu haben. (Ronald Pohl, 20.9.2022)