Weltmeister Frankreich unter Teamchef Didier Deschamps hat in der Nations League erst zwei Punkte, Österreich vier.

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Eine kleine Krise zur richtigen Zeit hat den "Blauen" noch nie geschadet, im Gegenteil: Das schützt die stolzen Träger zweier WM-Sterne vor ihrem ärgsten Feind, der Überheblichkeit. Die Gefahr der Arroganz besteht diesmal nicht. Zwei Monate vor Turnierbeginn in Katar und wenige Tage vor dem Nations-League-Spiel gegen Österreich wirkt der Hahn auf dem blauen Trikot der französischen Nationalelf ziemlich zerzaust, wenn nicht gerupft.

Fast scheint es, dass ein Übel das nächste anzieht. Begonnen hatte das Malheur im August mit der Erpressungsaffäre um den Mittelfeldstrategen Paul Pogba. Sein Bruder Mathieu ist diese Woche mit vier Bekannten in Untersuchungshaft gekommen, nachdem er im Internet posaunt hatte, Paul habe einen Marabout, einen afrikanischen Heiler, auf Stürmerstar Kylian Mbappé angesetzt, um diesen außer Gefecht zu setzen. Paul Pogba räumte offenbar gegenüber der Polizei ein, er werde deswegen erpresst und habe schon 100.000 Euro in bar bezahlt. Gegen sein Bruderherz und ein paar weitere Freunde wird nun ermittelt.

Viele Fans der "Blauen" zweifeln, ob Pogba und Mbappé je wieder zusammen spielen werden. Jedenfalls nicht gegen Österreich: Paul, der Juve-Star, ist verletzt und hat sich Anfang September – also nach Ausbruch der "Affäre" – einer Meniskus-Operation unterzogen. Medizinisch gerechtfertigt, erhielt Nationaltrainer Didier Deschamps damit einen vom Himmel gesandten Vorwand, Pogba nicht mehr neben oder hinter dem "maraboutierten" Goalgetter antreten zu lassen.

Ziemlich kindisch

Wobei Mbappé eigentlich nicht verhext wirkt: Mit zehn Toren in acht Spielen ist er sportlich in Hochform. Seine Aura hat dennoch gelitten. Die Sportzeitung L’Équipe berichtete, der Stürmerstar habe bei Paris Saint-Germain (PSG) nicht wie bisher angenommen bis 2025 unterzeichnet, sondern nur bis 2024; nach der WM werde er damit nur noch ein Jahr in Paris bleiben. Das schmerzt seine Pariser Fans, verstärkt es doch den Eindruck, dass Mbappé PSG so schnell wie möglich den Rücken kehren möchte. Mit seinem Spielnachbarn Neymar balgte er sich gegen Montpellier ziemlich kindisch um einen Elfmeterball. Bei einer Pressekonferenz prustete er über einen deplatzierten Klimascherz seines Trainers Christophe Galtier. Ist da am Ende doch ein Marabout im Spiel? Auf jeden Fall wirkt Mbappé alles andere als souverän. Der 23-Jährige macht gerade die neue Erfahrung, dass Toreschießen im Leben nicht alles ist.

Der andere Schützenkönig der "Bleus", Karim Benzema, leidet wiederum an einer Oberschenkelverletzung. Gegen Österreich kann ihn Deschamps nicht aufbieten. Neben "KB9" und Pogba fehlt verletzungsbedingt die halbe Mannschaft: Presnel Kimpembe, Lucas Hernandez, Ibrahima Konaté, N’Golo Kanté, Kingsley Coman, Hugo Lloris, Theo Hernandez, Adrien Rabiot und Boubacar Kamara.

Laut dem Sender France-Info bereiten diese Ausfälle Deschamps reichlich Kopfschmerzen. "Sie machen Angst", schreibt sogar das Pariser Portal Footmercato. Nicht doch: Das postkoloniale Frankreich hat genug Reservenbestand für zwei oder drei Nationalteams. Alles Topleute. Wenn Benzema nicht kann, springt Olivier Giroud (AC Milan) ein. Von Real Madrid kommt Eduardo Camavinga, noch nicht 20. Nicht zu vergessen: Antoine Griezmann. Und auch nicht Ousmane Dembélé, der Flügelmann von Barça, der auch bei der jüngsten Niederlage gegen Bayern ganze Arbeit leistete.

Blondinen bevorzugt

Angst macht eher das Umfeld abseits des Rasens: Erpresser und Hexer rauben den Stars die Konzentration – und ihre Trainer und Funktionäre sind auch keine Heiligen. Der allmächtige Präsident von Frankreichs Fußballverband (FFF), Noël Le Graët, soll Verbandsmitarbeiterinnen mit SMS belästigt haben. "Kommen Sie heute Abend zu mir zum Essen", schrieb der 80-Jährige einer jungen Angestellten, und einer anderen: "Ich bevorzuge Blondinen, wenn Ihnen das zusagt." Laut dem Magazin So Foot schrieb der Sportsfreund: "Sie sind ja wirklich gut ausgestattet, ich würde Sie gerne in mein Bett legen."

Solche Vorgesetztensprüche fallen in Frankreich in die Rechtskategorie "sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz". Muss Le Graët gehen, wäre das ein Destabilisierungsfaktor mehr für die Nationalelf. (Stefan Brändle, 20.9.2022)