Ein junger Mann liegt auf der Straße. Ein Auto hat ihn angefahren. Er ist schwer verletzt, aber noch bei Bewusstsein. Zahlreiche Passanten hören seine Hilferufe. Man gibt ihm Wasser, man redet ihm gut zu. Doch niemand unternimmt etwas, um sein Leben zu retten. Niemand versucht Erste Hilfe zu leisten. Niemand ruft die Polizei oder die Rettung. Niemand bringt ihn ins Krankenhaus. Er stirbt schließlich.

Was wie der Inhalt eines surrealen Theaterstücks erscheinen mag, war auf den Straßen von Indiens Metropolen lange Zeit Realität. Tausende Menschen starben auf diese Art und Weise. Der Grund, warum die Menschen keine Hilfe leisteten, ist nicht Ignoranz, sondern Angst. Sie hatten Angst, dass sie Teil einer polizeilichen Untersuchung werden würden, dass sie dabei schikaniert oder eingeschüchtert werden. Brachten Passanten die Unfallopfer ins Krankenhaus, sahen sie die Gefahr, dass die Behandlungskosten an ihnen hängenbleiben.

Piyush Tewaris (rechts) Kampf für sicherere Straßen beginnt bei der Analyse von Bodenmarkierungen – und geht bis vor Indiens Höchstgerichte. Dort erwirkte er ein Gesetz, das Ersthelfer ermutigen soll.
Foto: Rolex/Tarun Chouhan

Auch ein junger Cousin von Piyush Tewari starb auf diese Art. 40 Minuten lag er auf der Straße, ohne dass jemand ernsthaft Hilfe leistete. Das war im Jahr 2007. Das Leben Tewaris sollte sich mit dem tragischen Vorfall in seiner Familie schlagartig ändern. Der 1980 geborene, in Harvard ausgebildete Investmentmanager wollte etwas gegen die überproportional hohe Zahl an Verkehrstoten in Indien unternehmen. Seine NGO mit Namen Save Life Foundation, die er im Jahr 2008 gründete, begann mit Trainingsangeboten für Polizeiangehörige.

Schulungen für Polizisten

Heute agiert seine Organisation, der er weiterhin als CEO vorsteht, in vielen Bereichen der Verkehrssicherheit. "Dutzende Techniker, Juristen und andere Experten kümmern sich um die Verbesserung der Infrastruktur, die Verminderung menschlicher Fehler und um bessere Gesetze", resümiert der Sozialunternehmer. Einer der Meilensteine war die Durchsetzung eines "Good Samaritan Law", einer neuen Rechtsgrundlage für ganz Indien, das "gute Samariter" – Ersthelfer nach Verkehrsunfällen – vor negativen Folgen schützt. Jetzt ist Tewaris Organisation kurz davor, auch international tätig zu werden.

2008 war dieser Erfolg noch nicht abzusehen. "Am Anfang war es sehr hart. Als wir damals auf die Polizei zugingen, um Trainings anzubieten, gab es viel Widerstand", erinnert sich Tewari. "Die Polizei ist bei Unfällen oft als Erstes vor Ort, doch sie hatte das Selbstverständnis, dass sie für Recht und Ordnung zuständig ist, nicht für das Retten von Leben oder für Krankenhausfahrten." Doch Tewari blieb hartnäckig.

Nach knapp einem Jahr hatte er die leitenden Beamten überredet, dass das Wissen um Notfallmaßnahmen – die Erstversorgung Schwerverletzter und deren Stabilisierung für den Transport sowie Herz-Lungen-Reanimation – wichtig für die Polizei ist und er selbst kein Profitinteresse an den Schulungen hatte. Gemeinsam mit einer wachsenden Zahl Freiwilliger ging er an die Sache. "In den ersten zwei Jahren zeigten wir etwa 10.000 Polizisten in Delhi, wie man das Leben eines Menschen rettet", sagt Tewari.

Gesetzesänderung

Doch eine gut ausgebildete Polizei konnte nur ein Teil der Lösung sein. Mindestens ebenso wichtig sind präventive und rechtliche Maßnahmen. 2012 wandte sich Save Life an das indische Höchstgericht, um "gute Samariter" auf den Straßen besser zu schützen. Bereits davor hatte Tewari seinen Investmentmanagement-Job an den Nagel gehängt und widmete sich in vollem Umfang seiner NGO. Sein Engagement hatte bereits für Aufsehen gesorgt, er fand neue Geldgeber und Sprachrohre. Mittel, die er etwa durch einen Preis für Unternehmertum der Uhrenmarke Rolex lukrierte – für Tewari eine der ersten großen Anerkennungen für seine Arbeit –, steckte er in weitere Polizeischulungen. Im Rahmen der Rolex-Kooperation konnte er auch einen Monat an die Harvard Medical School in den USA gehen, um dort von den Rettungsdiensten zu lernen.

Im Jahr 2020 kamen allein in Neu-Delhi fast 1.200 Menschen im Straßenverkehr ums Leben. Knapp die Hälfte sind Fußgänger.
Foto: Rolex/Jess Hoffman

2016 gab das indische Höchstgericht den Good-Samaritan-Guidelines schließlich Gesetzeskraft. Mittlerweile war auch eine enge Kooperation der NGO mit Regierungsstellen entstanden. Mehr und mehr der Vorschläge von Save Life wurden aufgegriffen oder gemeinsam abgearbeitet. Tewari betont die fakten- und wissenschaftsbasierte Herangehensweise seines Teams. Es werden Daten gesammelt, Studien erstellt und strategisch jene Regionen, Infrastrukturprobleme oder organisatorischen Schwächen bearbeitet, die die höchste Aussicht auf Erfolg haben.

Seit 2016 kümmert man sich auf diese Art auch um einzelne Straßenprojekte. Am Anfang stand die Schnellstraße zwischen den Metropolen Mumbai und Pune – damals die tödlichste Straße des Landes. Mittlerweile werden in ganz Indien 17 dieser Schwerpunktaktionen durchgeführt, bei denen jeder Aspekt der Verkehrssicherheit optimiert wird, vom Schlagloch bis zur Überwachungskamera, von der Leitplanke bis zum Halteverbot am Straßenrand. Auf der Strecke Mumbai–Pune konnte seitdem die Zahl der Verkehrstoten um 52 Prozent reduziert werden, rechnet Tewari vor.

Neue Hilfsbereitschaft

Auch die Aufklärungskampagnen der neuen Gesetze zeigen Wirkung. "In einer Studie von 2013 sagten drei von vier Menschen, dass sie keiner verletzten Person auf der Straße helfen würden. Heute sagen ebenso viele, dass sie sehr wohl dazu bereit sind. Das hat sich innerhalb von zehn Jahren vollkommen verändert", sagt Tewari. Dennoch ist noch viel zu tun. Indien ist zwar bei der Zahl der Straßenunfälle nicht sehr auffällig. Dennoch sterben dabei relativ gesehen mehr Menschen als in allen anderen Ländern – laut Tewari sind es 38 Tote pro 100 Unfälle. "In Indien gibt es 145 Millionen Menschen, die einen Führerschein haben, und jedes Jahr kommen elf Millionen dazu", sagt der Aktivist, der einen Weg finden möchte, "alte" wie "neue" Lenker anzusprechen.

Save Life ist heute in 17 der 29 indischen Bundesstaaten vertreten. "Wir sind jetzt so weit, das Problem auf einer nationalen Größenordnung anzugehen", sagt Tewari. Mittlerweile setzt die Regierung viele der Ansätze der NGO landesweit um. Ab dem Jahr 2024 soll aus Save Life zudem eine internationale Organisation werden. "Wir testen ab, in welchen Ländern es den politischen Willen für die Arbeit an der Verkehrssicherheit gibt", sagt der indische Social Entrepreneur. "Denn nur dann ist ein Engagement sinnvoll."

Das erste Ziel soll Bangladesch sein – wie Indien ein Land mit vielen Unfalltoten. Tewari: "Wir wollen global arbeiten. Denn viele Länder in Afrika, Südasien oder Lateinamerika haben Probleme mit der Verkehrssicherheit, die mit unseren vergleichbar sind." (Alois Pumhösel, 23.9.2022)