In jenem Teil von West London, wo es kaum Cafés oder Restaurants gibt, kein Theater, keine Shops, wo die Stadthäuser nicht höher als zwei Stockwerke sind, steht an einer schmalen Straße ein noch schmaleres Haus. Wer nicht weiß, dass hier jemand lebt, vermutet wahrscheinlich einen Storage-Room, ein Mietlager, hinter der schwarzen Holztür mit Nummer 275, denn Fenster gibt es keine. "B. Freud" steht an der Klingel, es ist ihr Wohnhaus. Seit Jahren gehört sie zu den angesehensten Modedesignerinnen ihrer Generation, hat den Stil gehäkelter Pullover mit Schriftzügen ("1970", "Ginsberg is GOD", "Sugar Cube"), weiter Cordhosen und perfekt geschnittener Sakkos geprägt.

Bella Freud und ihr 21-jähriger Sohn Jimmy.
Foto: Jelka von Langen

Bella Freud steht in schwarz gestreiften Socken in rot gestreiften Badeschlapfen im dunklen Gang hinter der Eingangstür in ihrem Vorraum. Von oben fällt weiches Tageslicht in die Räume, es sind die einzigen Fenster, doch die Räume sind hell. Die Wände sind grün und gelb gestrichen, der Teppichboden in der jeweils selben Farbe. An der Wand hängt ein Original ihres Vaters Lucian Freud, einer der berühmtesten Porträtmaler des 20. Jahrhunderts. Es ist ein unfertiges Porträt von Bella Freud selbst. Lange ist sie dafür bei ihm im Studio gesessen. In einer Ecke steht ein Wagen mit Pinseln und Farbtuben.

Das Familienerbe

Unausgewaschen und ausgedrückt – genau so, wie er sie bei seinem Tod 2011 hinterlassen hat. In der Küche hängt ein Schwarz-Weiß-Foto: Der Vater macht einen Handstand auf einem Sofa, die Tochter sitzt lässig daneben. Auf dem Sofa im Apartment liegt das Buch ihres Urgroßvaters: Der Ursprung der Psychoanalyse – von Sigmund Freud. Immer und immer wieder hat Bella Freud es gelesen. Daneben, in Stapeln geordnet, Bücher ihrer Vorbilder: Francis Bacon, Yoko Ono, Patti Smith. Das Haus sieht aus, als würde Freud das mit dem Bewohnen ernst nehmen. Wir setzen uns auf die weiße Stoffcouch im Wohnzimmer, Freud überschlägt die Beine.

Bella Freud wohnt in einem schmalen Haus in London. Ihre Wohnung ist voller Erinnerungen.
Foto: Jelka von Langen
Foto: Jelka von Langen
Der Sessel stand bereits im Atelier ihres Vaters Lucian Freud.
Foto: Jelka von Langen

Ist das hier der erste Ort, den Sie als Zuhause bezeichnen würden?

Ja, ich musste 60 Jahre alt werden, um mir so einen Platz zu schaffen. Als Kind hatte ich so etwas nie. Wir sind immer umgezogen und herumgereist. Einen Ort zu haben, an den man zurückkehren kann, ist für mich der höchste erdenkliche Luxus.

Während Ihr Vater London kaum verließ, führten Sie, Ihre Schwester und Ihre Mutter eine Art Vagabundenleben – sie reisten durch Nordafrika und Südeuropa.

Meine Mutter wollte ein eigenständiges Leben abseits der Londoner Szene führen. Meine Schwester und ich machten mit. Wir konnten keine Freundschaften schließen, weil wir nie ankamen. Wir konnten uns schwer einfügen in die jeweiligen Gesellschaften – trotz unseres Namens.

Wie das?

Mein Vater war als Maler damals noch recht unbekannt – und über meinen Urgroßvater wurde zur Zeit meines Aufwachsens nur unter Intellektuellen besprochen. Wenn mein Name fiel, dachten in England viele erst einmal an meinen Onkel.

An welchen denn? Ihr Stammbaum hat allein auf Wikipedia sechs Unterkapitel.

An den, der im Fernsehen auftrat! Nichts Besonderes, aber er machte Werbung für Hundefutter – und so dachten alle beim Namen Freud erst einmal an Hundefutter. Erst als ich nach Italien zog, wurde mir bewusst, wie einflussreich mein Urgroßvater war.


Freud sucht nach Kinderfotos. Sie wollte immer ein Junge sein, sagt sie, aber nicht des Geschlechts, sondern der Kleidung wegen. Das Gegenteil von "girlish" wollte sie sein, Anzüge und Hemden tragen, und vor allem Krawatten. Bis heute eines ihrer liebsten Kleidungsstücke, weil sie "das Gesicht rahmen". Man würde so nicht nur den Kopf, sondern auch "das Gehirn in Szene setzen".

Styling im Badezimmer: Ihre neue Kollektion wird bei der Modedesignerin zu Hause fotografiert.
Foto: Jelka von Langen

Hat es Sie gestört, dass Sie schon zu Beginn Ihrer Karriere mit dem übergroßen Erbe Ihrer Familie konfrontiert waren?

Nein, aber auch hier habe ich von meinem Vater gelernt: Er wollte immer einfach nur ein Maler sein. Trotzdem hat er seinen Großvater nie geleugnet. Er ist seinen eigenen Weg gegangen – und genau so habe ich das von Beginn an auch gemacht.

Anders als Ihr Vater nehmen Sie in Ihrer Arbeit bewusst Bezug auf Ihre Familie. So ist etwa auch Ihr Firmenlogo eine handschriftliche Zeichnung Ihres Vaters Lucian.

Wenn ich könnte, würde ich noch stärker Bezug nehmen. Seit Jahren überlege ich, seine Gemälde mehr in mein Schaffen zu integrieren – doch ich merke immer mehr: Die Bilder stehen für sich. Das sind Werke für die Leinwand. Sie sind in sich geschlossen.

Bis auf das Logo, den ikonischen Hund Ihres Vaters und den Handschriftzug "BELLA FREUD" in Blockbuchstaben.

Ich war gerade 29 geworden und hatte mein Label gestartet, als ich wieder einmal bei ihm Modell saß. In einer Pause holte er sein Notizbuch und skizzierte für eine halbe Stunde – ich dachte, er arbeite am Werk weiter. Nach der Pause drehte er das Büchlein – und zeigte mir seinen Logoentwurf. Ich habe ihn direkt übernommen und bis heute nie verändert.

Bella Freud nutzt ihre Mode gerne für Statements.
Foto: Jelka von Langen

Nächster Tag, Fotoshooting im selben Apartment für Freuds neue Kampagne: Auf dem grünen Teppichboden im Wohnzimmer, zwischen all den Büchern und Bildern, sind nun Schuhe aufgereiht. Die Sonne scheint über die Oberlichten auf Kleiderständer voller Hochzeitsanzüge mit weiten Hosen. Freud selbst trägt weißes Hemd und Krawatte. Sie sitzt im Nebenraum zwischen wuselnden Fotoassistenten, Stylistinnen und einem Team für Haare und Make-up und gibt letzte Anweisungen.

Hemden, Hosen, Krawatten – es scheint, als wären Sie dem Reduzierten verfallen.

Klar, ich war immer interessiert an Uniformität und Protest. Sich zu reduzieren kann Großes schaffen, in der Mode, in der Kunst. Ich denke hier an Patti Smith, eines meiner größten Vorbilder. Ihre Kunst ist eigentlich die Reduktion. So soll auch meine Mode sein – wie ein Gedicht: reduziert, undogmatisch und unberechenbar.


Gute Bücher liest Bella Freud manchmal fünf-, sechsmal. Ihr derzeitiges Lieblingsbuch: Ocean Vuong, "Time is a Mother".
Foto: Jelka von Langen

Unberechenbar zu sein scheint Ihnen besonders wichtig.

Oh ja! Ich will nie wissen, wie es weitergeht. Wie mein Vater: Manchmal war er frustriert, weil ihm nichts Neues gelang, dann brach er alles ab. Manchmal hat er zu klein begonnen und wollte die Leinwand vergrößern – wie bei Patti Smith: ein ständiges Ringen um die richtige Form.

Regelmäßig habe Bella Freud Smith getroffen, vor allem früher – darüber hinaus ist eine Londoner Szene entstanden, die von den 90er-Jahren bis jetzt großen Einfluss in allen Bereichen der Kunst, Musik und Mode hat. Mit allen ist Freud bis heute befreundet. Eine Punk-Rock-Zeit, mit Modedesignerin Vivienne Westwood und den Fotografen Mario Testino oder Juergen Teller, Supermodels wie Kate Moss, der Regisseurin Lynne Ramsey, dem Künstlerehepaar Nick und Susie Cave. Eine Szene, die verbunden ist durch eine nie erschöpfte Diskussion über künstlerisches Arbeiten. Ramsey beschreibt Freud als ein Verbindungsglied der Szene: "Mode, Kunst, Film, Problemlösungen aller Art, Träumereien – Bella ist das alles." Und Nick und Susie Cave zählen sie sogar zu ihrer Familie: "Bella ist unverfälscht. Die Beste. Wir lieben sie." Freud war es auch, die Kate Moss und ihren Vater einander vorgestellt hat. Moss habe sich in seine Gemälde verliebt – und als sie einmal ein Interview gab, antwortet sie auf die Frage eines unerreichten Lebenstraumes: "Ich will einmal im Leben in einem Gemälde von Lucian Freud vorkommen." Dieser las das Interview – und lud sie zur Sitzung ein. Bella Freud erinnert sich: "Kate war wochenlang im Studio. Alles verzögerte sich, weil sie im Laufe der Zeit bemerkte, dass sie schwanger war." Ihr Vater malte Moss nackt – am Beginn ihrer Schwangerschaft. Freud holt ein im Holzrahmen und Passepartout gerahmtes Foto von der Apartmentwand: ihr Vater, bereits älter, krank im Bett, Kate Moss kuschelt sich dazu. Es ist eine ihrer liebsten Erinnerungen.

Der "1970 Jumper" ist ein Bestseller.
Foto: Jelka von Langen

Freuds einundzwanzigjähriger Sohn Jimmy kommt in der Umkleide vorbei, er trägt ein T-Shirt mit Patti Smiths Albumcover Horses. Die beiden umarmen sich. Ein Stylist fragt: "Bist du in Stanford reingekommen?" – "Ja, Mann!", sagt Jimmy, "Abteilung Philosophie! San Francisco!" – "Fantastisch. Das sind ja brandneue Nachrichten", sagt der Stylist. Jimmy geht zum Kühlschrank, nimmt sich etwas Zitrone und isst Räucherfisch direkt aus der Packung. "Mama!", ruft er. "Können wir nachher noch kurz in die Stadt fahren?"

Jimmy hat noch keinen Führerschein, Freud fährt einen neuen Mini, gerade erst hat sie ihn gekauft. Sie lernt noch, mit Gangschaltung zu fahren. Freud sagt: "Das ist so toll mit Stanford, Jimmy, das müssen wir demnächst feiern." – "Danke, Mama. Sag mal: Hättest du eigentlich Angst, wenn ich Kunst studieren würde?" Freud antwortet, sie müsse sich jetzt auf die Gangschaltung konzentrieren. Die beiden setzen sich später in ein Restaurant, um zu essen. Ein Lokal mit österreichischer Küche, sie bestellen Würstel und Strudel. Erst durch Jimmy habe sich Freud wirklich mit ihrem Urgroßvater auseinandergesetzt, sagt sie. Jimmy verlässt den Tisch, um zu rauchen.

Schreiben Sie seitdem Ihre Träume auf?

Tatsächlich mache ich das schon seit Jahrzehnten. Ich habe nämlich sehr gute Träume. Bloß jetzt versuche ich auch zu interpretieren – was nicht immer gut ist.

Das müssen hunderte Notizbücher an Träumen sein!

Ich habe eines. Das liegt neben meinem Bett.

Foto: Jelka von Langen

Und wenn das vollgeschrieben ist?

Dann geht es irgendwie verloren. Ich habe immer nur ein einziges. Ich bin keine Person, die katalogisiert oder sammelt.

Durch die Fensterscheibe sehen wir Jimmy rauchen. Freud bekommt eine Textnachricht auf ihr iPhone. Der Bildschirm wird hell, als Hintergrundbild: Lucian Freuds Junge auf dem Sofa. Eine Bleistiftzeichnung seines Frühwerkes, mit blauer Kohle schattiert. "Der Junge auf dem Sofa sieht aus wie Jimmy, mit seinen blauen Augen", sagt Freud. Als das Bild nach Lucian Freuds Tod versteigert wurde, wollte sie es zurückkaufen und fuhr ins Auktionshaus. Es war mit hunderttausend Pfund ausgerufen, das könnte sie schaffen, dachte sie. "Als der Preis aber immer weiter stieg, wusste ich, dass das Bild nie wieder in unsere Familie zurückkehren wird", sagt sie jetzt. Für zwei Millionen Pfund ging es an einen anonymen Käufer. Hastig machte Freud damals noch ein Handyfoto – etwas verschwommen und mit Goldrahmen des Auktionshauses ist es seit damals ihr Bildschirmhintergrund. Das Foto vereine ihre beiden liebsten Menschen: den Vater und den Sohn. (Rondo, Gabriel Proedl, 29.9.2022)