Die Bauernmacht durchdringe das Land wie eine zähe Erbmasse, sagt die Tiroler Autorin Alexandra Keller im Gastkommentar. Um die Agrargemeinschaften, die ein Fünftel der Landesfläche ausmachen, sei es seltsam still.
Auf ihre Reaktion ist Verlass. Werden in Tirol bauernbundnahe Individuen, Vereine, Gemeinschaften oder Organisationen offiziell und öffentlichkeitswirksam bei Unrechtmäßigkeiten ertappt, legen sie in Windeseile los. Mit hochheiligem Entsetzen, verurteilendem Kopfschütteln und wehrhaft gekreuzten Fingern gegenüber den Dreistigkeiten von außen ziehen sie die Verteidigungsmauer hoch.
Griff in den Fördertopf
Im aktuellen Fall ist es die Tiroler Jungbauernschaft und Landjugend, die auf diese Weise geschützt werden muss. 120 Organisationen der Jungbauernschaft und Landjugend haben bekanntermaßen mehr als 800.000 Euro an Corona-Förderungen aus dem diesbezüglichen Topf für Non-Profit-Organisationen erhalten. Weil diese Organisationen aber zu wenig Non Profit und zu sehr dem Tiroler Bauernbund nahe beziehungsweise über den Bund gar der ÖVP zuzurechnen sind, müssen sie die Fördergelder zurückzahlen. Sie wollen aber nicht – und geht es nach dem Tiroler Bauernbund, sollen sie auch nicht. Zurückzugeben, was einem nicht gehört, hat in ihrer Welt schließlich keine nennenswerte Tradition.
Der als unrechtmäßig erkannte Griff der Jungbauern in den NPO-Fördertopf wurde jedenfalls zum Thema im gerade ausklingenden Tiroler Landtagswahlkampf. Der mit bauernbündischer Chuzpe über Jahrzehnte hinweg inszenierte, mehrfach als verfassungswidrig erkannte, ein Volksvermögen in Milliarden-Euro-Höhe umfassende und nach wie vor nicht reparierte Agrargemeinschaftsskandal schaffte das nicht. Seltsam eigentlich. Oder eben doch bezeichnend für die Bauernmacht, die das Land wie eine zähe Erbmasse durchdringt?

Verfassungswidrig übertragen
Im Juli 2022 forderten der Tiroler Gemeindeverband und der Verein Gemeindeland in Gemeindehand im Rahmen einer Pressekonferenz die Rückübertragung jenes Grundeigentums an die Tiroler Gemeinden, das ebendiesen unter Federführung der vom ÖVP-Bauernbund dominierten Landesregierung über Jahrzehnte hinweg entzogen worden war. "Volksvermögen im Ausmaß eines Fünftels der Landesfläche wurde 170 Tiroler Gemeinden verfassungswidrig geraubt", stellt der Verein klar, zu dessen Unterstützern "gestandene" ÖVP-Männer wie Gemeindeverbandspräsident Ernst Schöpf oder Altlandeshauptmann Wendelin Weingartner zählen.
Dessen Vorvorgänger Landeshauptmann Eduard Wallnöfer war treibende politische und Albert Mair, Leiter der Tiroler Agrarbehörde und späterer Chef der Hypo Tirol Bank, war treibende "Beamtenkraft" hinter den unrechtmäßigen Eigentumsübertragungen gewesen. Im Bescheid, mit dem die Außerferner Gemeinde Bichlbach im Jahr 1951 ihr Grundeigentum an 26 Bauern verlor, hatte Mair als Begründung festgehalten: "Die vorläufige Regelung der Verwaltung war vorzunehmen, da die Berechtigten mit Grund befürchten, durch die fortschreitende Verschiebung der Bevölkerungsschichtung zuungunsten des Bauernstandes zukünftig nicht mehr in der Lage zu sein, auf die Verwaltung der Gemeinde hinreichend Einfluss zu nehmen."
Erkenntnis ignoriert
Der Einfluss der Bauern. Mit ihm hatte Erwin Aloys, langjähriger Bürgermeister der Gemeinde Ischgl, wenig Freude und hielt in einem Interview fest: "1974, als ich Bürgermeister wurde, hat die Gemeinde absolut nichts mehr besessen. Null, nicht einmal mehr eine Straße. Ein ungeheuerlicher Vorgang in einem Rechtsstaat im 20. Jahrhundert."
Die ungeheuerlichen Vorgänge fanden tirolweit statt und wurden 1982 erstmals als verfassungswidrig erkannt. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs wurde jedoch ignoriert, und erst als die Einzelheiten ab 2005 sukzessive an die Öffentlichkeit gelangten, wurde der Skandal in seiner wahren Dimension wahrgenommen.
Immenses Vermögen
Georg Willi, grüner Bürgermeister der Stadt Innsbruck, bezeichnete die Vermögensverschiebung bald als "größten Kriminalfall in der Geschichte Tirols". Ex-Landeshauptmannstellvertreter Hannes Gschwentner (SPÖ) nannte sie schlicht "Diebstahl" und hielt 2011 in einem Interview fest: "Es ist aber ein Irrglaube, dass man das, was hier jahrzehntelang an Unrecht passiert ist, schnell mit einem Schwerthieb regeln beziehungsweise richtigstellen kann. Je nachdem, wie renitent die Burschen sind, geht es leichter oder weniger leicht."
Gschwentner sollte recht behalten. Obwohl dies zumindest für 2,5 Milliarden verfassungswidrig verschobene Quadratmeter mit einfachem Landesgesetz möglich wäre, wurde das immense Grundvermögen nach wie vor nicht an die Gemeinden zurückübertragen. Stattdessen reagierte das Land mit einem so bizarren wie hochkomplexen Gesetzeskonstrukt, das den Einfluss der Bauern nur minimal minimierte und jenen der Gemeinden nur minimal fixierte.
"Die Burschen" zeigten offenkundig ein Höchstmaß an Renitenz, und es muss angesichts der Reglosigkeit fast zwingend davon ausgegangen werden, dass die Tirolerinnen und Tiroler sich den Worten beugen, mit denen der langjährige Bauernbundobmann und Landeshauptmann-Stellvertreter Anton Steixner den großen Raub am 4. Mai 2005 verteidigte: "Die Übertragung des Eigentums von den Gemeinden auf die Agrargemeinschaften war politisch gewollt." Das ist sie wohl bis heute geblieben. (Alexandra Keller, 21.9.2022)