Marlon Possard ist überzeugt, dass Bilanzfälschungsskandale auch etwas Gutes haben können.

Foto: Andreas Rottensteiner

Ist eine Bilanzfälschung strafrechtlich relevant und Punkt? "Ja eh, aber." So oder so ähnlich begann die Auseinandersetzung des Juristen und Rechtsphilosophen Marlon Possard (26) mit dem Bilanzfälschungsskandal in der Commerzialbank Mattersburg. Diesen hat er für seine Dissertation an der Universität Innsbruck nicht nur auf seine juristische Dimension hin untersucht ("strafrechtlich relevant"), sondern auch auf seine ethische ("verantwortungsloses Handeln"). Aber damit ging es mit dem Thema erst richtig los. Denn im Rahmen einer Wirtschafts- und Unternehmensethik warf das Thema "Bilanzfälschung" viele weitere, vor allem praxisrelevante Fragen auf.

Am augenfälligsten konnte das Possard, der auch Lehrbeauftragter für externes Rechnungswesen ist, durch explorative Interviews mit Buchhalterinnen und Buchhaltern zeigen. Auf die Frage, ob diese so, wie in der Commerzialbank Mattersburg geschehen, Bilanzen fälschen würden, antworteten nicht alle mit "Nein, sicher nicht". Bilanzen zu fälschen können sich offenbar einige vorstellen – vom Mitarbeiter im Rechnungswesen bis hin zum CEO –, und das auch noch für richtig befinden. Zum Beispiel, weil man den Job verlieren könnte, wenn man es nicht tun würde. Oder etwa dann, wenn eine gefälschte Bilanz das Überleben des Unternehmens retten könnte.

Ethik in Betrieben kaum verankert

Repräsentativ war Possards Umfrage zwar nicht. Dafür war das Sample (n=16) zu klein. Aber die Interviews, geführt unter Zusicherung der Anonymität, zeigten eines deutlich: "Es herrscht Diskussionsbedarf. Das Thema Ethik ist in der betrieblichen Praxis noch viel zu wenig verankert."

Es gebe eben immer wieder moralische Dilemmasituationen, bei denen "richtig" und "falsch" je nach ethischer Theorie in der Praxis verschwimmen können. "Ein Utilitarist", sagt Possard, "wird den Verantwortungsaspekt anders wahrnehmen als etwa ein Anhänger des kategorischen Imperatives von Immanuel Kant." Praxisrelevanz erhält Ethik zudem durch die neue EU-Whistleblower-Richtlinie, bei deren Umsetzung Österreich noch säumig ist. "Da stellen sich viele neue Fragen, vor allem, was Ethik in praktischer Anwendung und Umsetzung bedeutet."

So müsste etwa geklärt werden, wie Betriebe Anlaufstellen schaffen sollen, bei denen Whistleblower anonym ihre Hinweise deponieren können. Rechtlich unklar sei auch, wie Informanten geschützt bleiben, falls ihre Identität im Unternehmen bekannt werde. Possards Schlussfolgerung: "So, wie es in Betrieben Sicherheitsbeauftragte gibt, sollten für solche und ähnliche Fragen Ethikbeauftragte rechtlich verankert werden."

Der Bedarf für Ethikbeauftragte als Ansprechpartner sei jedenfalls gegeben – die Nachfrage dafür sei ebenso stark ausgeprägt: "Das haben auch meine Interviews gezeigt. Man kennt die Problematiken, möchte darüber reden und lernen, wie man es richtig machen kann." (Norbert Regitnig-Tillian, 21.10.2022)