ÖVP-Spitzenkandidat Anton Mattle hat seine Wahlkampftour dort begonnen, wo er sie am Freitag auch beendet: in den kleinen Tiroler Gemeinden.

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Am kommenden Sonntag könnte in Tirol kein Stein auf dem anderen bleiben: Der Tiroler ÖVP droht bei den Landtagswahlen ein Rekordverlust, und die Oppositionsparteien loten bereits Dreier-, Vierer- oder vollständig flexible Regierungskonstellationen aus. Szenarien, die im heiligen Land jedenfalls ihre Premiere feiern würden. Zwar dürften die ersten Prognosen, die der ÖVP einen Verlust von 15 Prozentpunkten auf unter 30 Prozent der Stimmen postulierten, zu pessimistisch ausgefallen sein. Was am Wahltag genau passieren wird, weiß derzeit aber niemand.

Der schwarze Spitzenkandidat Anton Mattle bemüht sich um Schadensbegrenzung. Zwar gilt Mattle als Pragmatiker und durchaus versierter Landespolitiker, doch passiert ihm im Wahlkampf eine Panne nach der anderen: Zuerst stellte er in einem Interview entgegen der Parteilinie die Sanktionen gegen Russland infrage – Kanzler Karl Nehammer musste zur Aussprache nach Tirol kommen. Wenig später trat eine seiner Hinterbänklerinnen die bundesweite Klimabonusdebatte los, über die dann sogar die Generalsekretärin der Volkspartei, Laura Sachslehner, stolperte und zurücktreten musste. Dass er als einziger Spitzenkandidat ein Interview mit dem Ö1-"Mittagsjournal" absagte, warf Fragezeichen auf. Zuletzt blamierte sich Mattle mit dem "Eis essen wie ein Normaler"-Statement, das ihn als volksnah darstellen sollte.

Kontakt mit Blauen

Für solche Fälle hätte die Tiroler ÖVP, die seit dem Zweiten Weltkrieg stärkste Kraft im Land, eine gut geölte Wahlkampfmaschinerie mit Regierungsmitgliedern, starken Bünden und viel Geld. So wirklich scheint der Motor hinter Mattle aber nicht anzulaufen: Aus der Regierungsmannschaft wurde Mattle mit Widerspruch in Sachen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung konfrontiert, die Landjugend und der Bauernbund waren in den vergangenen Tagen selbst mit Krisenkommunikation wegen zu Unrecht bezogener Förderungen beschäftigt, und der ÖAAB-Flügel fiel dadurch auf, dass er laut FPÖ mit den Blauen Kontakt hielt, als Mattle sich klar gegen eine Koalition mit den Freiheitlichen aussprach.

Kämpft Mattle gegen seine eigenen Reihen? Als gesichert gilt, dass Noch-Landeshauptmann Günther Platter einiges daran setzen musste, Mattle als seinen gewünschten Nachfolger zu positionieren. Platters interner Widersacher, Wirtschaftskammerpräsident Christoph Walser, soll schon bereit gestanden sein.

Mattle als "Coup" Platters

Der Innsbrucker Politologe Ferdinand Karlhofer sagt, Platter habe mit Mattles überraschender Nominierung Walser aus dem Rennen nehmen wollen. Dieser "Coup" sei gelungen. Karlhofer glaubt aber auch, dass sich der Walser-Flügel nach dem 25. September wieder zu Wort melden werde. "Nach der Wahl könnten Personen als Quereinsteiger auf den Plan treten, von denen bisher weniger die Rede war, wie der VP-Tourismussprecher und Wirtschaftsbündler Mario Gerber", sagt Karlhofer. Er glaubt nicht, dass Mattle neuer Landeshauptmann wird.

Das hofft auch FPÖ-Chef Markus Abwerzger. Er rief gegen Mattle das "Duell um Tirol" aus. "Nicht unklug", sagt Politologe Karlhofer, weil er sich damit "auf Augenhöhe" mit der ÖVP bringen wolle und Mattles Vorstoß gegen ihn selbst nutze, indem Abwerzger versucht, einen Keil in die Landeshauptmannpartei zu treiben. Abwerzger betont immer wieder, dass die ÖVP-Front, die eine Zusammenarbeit mit den Blauen ausschließt, intern bröckle und dass er sehr guten Kontakt zur zweiten und dritten Reihe hinter Mattle halte.

Stabilität als Trumpf

Sollte dieser Versuch der Spaltung nicht gelingen, baut Abwerzger vor. Er brachte zuletzt die Möglichkeit einer punktuellen Zusammenarbeit mit außerkoalitionären Vereinbarungen ins Spiel. Eine Regierung mit flexiblen Mehrheiten für gewisse Themen. Ein Experiment.

Ob Experimente in Krisenzeiten Anklang finden, bezweifelt Karlhofer: "Gerade in Krisenzeiten tendiert die Wählerschaft eher zu Stabilität und weniger zu Experimenten." Das nutzt SPÖ-Spitzenkandidat Georg Dornauer. Auch er hat sich in Stellung gebracht, hat aber jede Koalitionsoption außer Schwarz-Rot ausgeschlossen.

Die ÖVP und ihre Juniorpartner

Laut einigen Umfragen könnte es für eine schwarz-rote Mehrheit dennoch knapp werden. Rechnerisch genügen 47 bis 48 Prozent der Stimmen, um eine Mandatsmehrheit im Landtag zu erlangen. Dornauer ist bemüht, sich keine Ausrutscher zu erlauben, und gibt sich staatsmännisch zahm.

Die SPÖ als Juniorpartner einer übermächtigen ÖVP, das kennen die Tirolerinnen und Tiroler. Was die Tirolerinnen und Tiroler auch noch von Schwarz-Rot in Erinnerung haben: Es ist nicht leicht, neben einem übermächtigen Partner zu bestehen.

Ähnlich erging es den Grünen als Nachfolger der Roten in der Partnerschaft mit der ÖVP. Sie haben es verabsäumt, in zwei Legislaturperioden an der Seite der ÖVP ihr eigenes Profil zu schärfen, sagt Karlhofer.

"Kulturschock" Dreierkoalition

Eines gilt als gesichert: Schwarz-Grün geht sich nicht mehr aus. Dementsprechend präferieren Grüne, aber auch Neos eine Dreierkoalition. Die Liste Fritz kokettierte überhaupt mit einer Viererkoalition ohne ÖVP. Eine Dreierkoalition hält Karlhofer zwar für möglich, doch für Tirol käme das einem "Kulturschock" gleich. Andererseits wäre es auch "eine Art Normalisierung", die eigentlich überfällig sei.

Grüne, Neos und Liste Fritz buhlen dabei vor allem um Stimmen im urbaneren Tirol. Die ÖVP konzentriert sich hingegen auf den ländlichen Raum, wo sie ohnehin stark ist. Damit läuft sie Gefahr, den Anschluss in der bevölkerungsreichen Inntalfurche zu verlieren. Eine absehbare Entwicklung, wie der Politikwissenschafter Anton Pelinka in einem APA-Interview erklärte: "Ich bewundere die Tiroler ÖVP dafür, dass sie den unvermeidlichen Absturz so lange hinausgeschoben hat. Sich über so lange Zeit derartige Mehrheiten zu sichern und das Land als katholisches Bauernland darzustellen, obwohl es sich längst nicht mehr um ein solches handelt."

Das zeigen Städte wie Innsbruck, Hall, Schwaz und Kufstein, die längst nicht mehr schwarz regiert sind. Dort befindet sich ein nicht zu unterschätzender Pool an Wählerinnen und Wählern, viele von ihnen gelten als Wechselwählende.

Spitzenkandidat Mattle scheint sich auf seine Kernwählerschaft zu fokussieren. Symbolisch dafür steht seine Wahlkampftour: Begonnen hat sie in seiner Heimatgemeinde Galtür, im hinteren Paznaun, enden wird sie am Freitag im 900-Einwohner-Dorf Nikolsdorf, der östlichsten Gemeinde des Bundeslandes. (Steffen Arora, Laurin Lorenz, 21.9.2022)